Einige Werkkommentare /
some comments in german

Alfred Zimmerlin, kollaborative Arbeit mit KlangLab

Let Me Tell You About My Sound (2022/2023)

für das Ensemble KlangLab:
Sopran- und Altsaxophon, Bassposaune, elektrische Gitarre, drei Perkussionisten

Let Me Tell You About My Sound geht von sechs Texten aus, welche die sechs Mitglieder des Ensemble KlangLab verfasst haben. In diesen Texten beschreiben sie je einen besonderen Klang auf ihrem Instrument, den sie mögen und von dem sie sich denken, dass ihn das Publikum noch nie gehört hat. Diese Texte werden gelesen, geschrieben, gespielt, gleichsam auf andere Instrumente übersetzt… Die Einladung Let Me Tell You about My Sound wird aber auch in einem erweiterten Sinn verstanden, beispielsweise winken die Musiker:innen mit einem Augenzwinkern zurück in die Vergangenheit, als der Klang ihres Instruments noch anders war oder eine andere Funktion hatte. Oder aber der Komponist lässt seine eigene Idee von Klang vom Ensemble übersetzen, etc.

Was im Konzert zu hören ist, ist das Ergebnis eines intensiven Prozesses des Hörens, der Auseinandersetzung und des sich Aneignens von Klang, der von unterschiedlichen Vorgaben des Komponisten ausgelöst wurde. Ohne den immensen kreativen Input der sechs Musiker:innen, wäre das Stück undenkbar. Im Grunde kann es nur von ihnen gespielt werden. Ich möchte deshalb Adrían Albaladejo, Dino Georgeton, Bertrand Gourdy, Zacarias Maia, Noa Mick und Christopher Moy für diese inspirierende Zusammenarbeit danken. (A.Z.)

Alimondoj (2020)

for soprano, bass flute (also piccolo) and harp with soundtrack
English poems: Ingrid Fichtner
Some words in Esperanto: Alfred Zimmerlin
Dedicated to the Damselfly Trio

Sprache hat einen unglaublich reichen Klang, und die wunderbare musikalische Sprache der Lyrik der Dichterin Ingrid Fichtner begehrt gleichsam nach der Übersetzung in Klang, gesungenen Klang, instrumentalen Klang. Ingrid Fichtners Gedichte sind sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache entstanden, ein Glücksfall für einen Komponisten, der in einem Stück Musik die englische Sprache verwenden möchte, aber Deutsch (Schweizerdeutsch) als Muttersprache hat. Doch da funkt noch eine andere Sprache dazwischen: Die Sängerin spricht mitunter einige Worte in einer Sprache, die einem zwar wegen ihrer Bezüge zu romanischen und germanischen Sprachen verständlich erscheinen mag, es aber nicht ist, denn sie ist künstlich und konstruiert; ihr fehlt der gewachsene, lebendige Körper einer Sprache von native speakers: Esperanto. Das können Kommentare sein zu dem, was sie gerade tut („Mi turnis la paĝon / Ich habe die Seite gewendet“), es können aber auch Fragen sein, die plötzlich auftauchen („Kial mi entute kantas poemon? / Warum singe ich überhaupt ein Gedicht?“). Beim Machen, aber auch beim Hören von Musik sind wir doch ständig dran, Fragen zu stellen. – Alimondoj stellt ganz viele Fragen an uns, mit Klängen, musikalischen Verhaltensweisen, die einen auch irritieren können. Das Damselfly Trio ist dabei ein ganz wichtiger kreativer Partner, denn es werden im Stück auch Räume geöffnet, wo sich eine neu-andere Virtuosität entfalten kann. Das ist zwar auch eine manuelle Virtuosität, mehr aber noch eine gestalterische, denn das Stück möchte auch die kreative Erfindungsgabe der Musikerinnen beflügeln. Im Klang-Amalgam, das durch die Musikalisierung von Sprache entsteht, spüren wir die Körper und Persönlichkeiten der Interpretinnen. Sie führen uns in einen speziellen Alimondoj-Erlebnisraum. Sie führen uns nach Anderwelt. (AZ)

Akkordeonbuch (2020-2022)

Interpret:innen heute sind Forscher:innen auf ihren Instrumenten, sie entwickeln die klanglichen und technischen Möglichkeiten virtuos weiter. Für mich als Komponisten heisst das, Räume offen zu lassen, wo sich diese neu-andere Virtuosität entfalten kann. Ich will eine Art zeitlich verschobener Teamwork-Situation schaffen, in welcher aufgrund eines klaren Vorschlags des Komponisten die Interpretierenden eine nur ihnen eigene Erscheinungsform des Stücks gestalten. Im Akkordeonbuch, einem work in progress, gibt es Stücke, die zwar klar formuliert sind, gleichzeitig aber unendlich viele Gestaltungsmöglichkeiten haben und Raum lassen, eigene Forschungen einzubringen. Es ist erwünscht, dass die Erscheinungsform lebendig bleibt und sich immer wieder erneuert. Daneben gibt es aber auch Stücke, die en détail ausformuliert sind.

Sergej Tchirkov ist ein zentraler kreativer Partner des Projekts. Seit Jahren treffen wir uns regelmässig, um über sein Verhältnis zu seinem Instrument und seine Forschungen zu sprechen. Ein langes Gespräch habe ich im Januar 2016 auch aufgezeichnet; es wurde eine wichtige Grundlage für das Akkordeonbuch. Daraus ist bei mir ein Bild der „Psychologie“ des Akkordeons entstanden. Obwohl das Projekt Akkordeonbuch schon seit 2014 zwischen uns schwebt, war ich erst Ende 2020 so weit, mit der Kompositionsarbeit zu beginnen. Eine wichtige Thematik des Akkordeonbuchs ist die Beziehung des Körpers zum Klang: Unterschiedliche Körperhaltungen beeinflussen den Klang mit enormer Direktheit. Es gibt Stücke im Akkordeonbuch, wo auch Körperhaltungen komponiert sind, was mitunter zu einem kurzen Aufscheinen eines Théâtre musical führen kann. Die Körperhaltungen können auch dem Notentext widersprechen, um einen Konflikt zwischen Körper und Klang zu erzeugen.

Verstärkt wurde diese Thematik durch das Erlebnis der abwesenden Körper während der COVID-19-Pandemie und der dadurch nur noch virtuellen Kommunikation zwischen Sergej und mir. Körperpräsenz wird online nicht übermittelt. Dadurch wurde auch das direkte Befragen dessen, was mit dem Interpreten im Moment des „Machens“ geschieht – die Poetik von Sergej Tchirkov – gestört. Das Stellen von Fragen, das Suchen nach möglichen Antworten wurde nun in einzelnen Stücken auch direkt thematisiert. Während des Spielens stellt sich der Interpret Fragen im Tonfall einer Selbstreflexion, mit leiser Stimme, kaum verständlich. Und er gibt sich mögliche Antworten, wie: „In den Raum zwischen den Menschen zeichnen.“ Er tut dies aber in einer Sprache, die einem zwar wegen ihrer Bezüge zu romanischen und germanischen Sprachen verständlich erscheinen mag, es aber nicht ist, denn sie ist künstlich und konstruiert; ihr fehlt der gewachsene, lebendige Körper einer Sprache von native speakers: Esperanto.

Das Akkordeonbuch umfasst 17 Stücke: 7 längere (ca. 5 bis 9 Minuten) und 10 kurze (ca. 2 Minuten). Eine abendfüllende Aufführung wird voraussichtlich ca. 70 Minuten dauern. Die Stücke sind wie in einem Netzwerk miteinander verbunden; nach klaren Regeln kann ein:e Interpret:in sich in diesem Netzwerk bewegen und ganz unterschiedliche Reihenfolgen der Stücke generieren. Somit kann auch die Erscheinungsform des Zyklus sich ständig verändern. Die langen Stücke beschäftigen sich prozesshaft mit dem Verhältnis Körper-Melodie. Die kurzen Stücke sind primär harmonisch gedacht und bestehen zum Teil aus gelenkten Improvisationen.

Das Langzeit-Projekt Akkordeonbuch wird unter anderem grosszügig unterstützt von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung und der Grieg Academy / University of Bergen (Norwegen). Beiden sei an dieser Stelle herzlich gedankt.

Echo an ferner Wolke (2017/18)

für Mezzosopran, Violine, Violoncello und Klavier

Im Zentrum des 17-teiligen, für das ensemble amaltea geschriebenen Zyklus „Echo an ferner Wolke“ für Mezzosopran und Klaviertrio von Alfred Zimmerlin stehen Musikalisierungen von vier Haikus in japanischer und einem Gedicht in deutscher Sprache. Die Dichterin Ingrid Fichtner hat letzteres im Wissen um den Kontext verfasst. Die Haikus – sie stammen von Murakami Kijo, Takakuwa Rankou, Ikenishi Gonsui und Kobayashi Issa – rufen in zeitlichem Stillstand eingefrorene Wahrnehmungsmomente aus den vier Jahreszeiten hervor, in der Abfolge Winter-Frühling-Sommer-Herbst. Und in jedem Haiku sorgt ein anderer Himmelskörper für besondere Beleuchtung: Sterne, Mond, Milchstrasse und Sonne.

Wenn Sonoe Kato, die Sängerin des ensemble amaltea, ein Haiku auf japanisch liest, dauert das ungefähr 7 Sekunden, doch der Inhalt dauert ewig. Um von dieser eigentümlichen Zeitlichkeit eine Ahnung zu vermitteln, wurde Ihre Sprache computergestützt minutiös analysiert. Die sieben Sekunden erklingen im Werk in einer extremen, auf etwa drei Minuten gedehnten Zeitlupe, die Sprachmelodik wurde gespreizt. Demgegenüber erhält die deutsche Sprache von Ingrid Fichtners „Spätsommerlich“ einen liedhaften, sprachlich natürlich wirkenden Zeitstrom, ohne dass das Gedicht im romantischen Sinn vertont würde: Auch hier sind es primär Klang und Rhythmus der Sprache, welche die Musik hervorbringen.

Überlagert wird der fünfteilige Jahreszeitenzyklus durch weitere Zyklen, die sich am Spiral-Modell der Jahreszeiten orientieren. Es gibt vier mehrteilige „Augenblicke“ von je wenigen Sekunden Dauer, sechs „Momente“ von 1-2 Minuten Dauer (die Zweimonats-Jahreszeitenbilder von Pieter Bruegel d. Ä. im kunsthistorischen Museum Wien mögen zu uns in die Gegenwart hinüberwinken) und zwei „Finale“, welche zwei Jahresende-Haikus von Hara Sekitei und Yosa Buson so Musik werden lassen, dass am Ende die Sprache der Sängerin Sonoe Kato wieder ihr natürliches Sprechtempo und ihre natürliche Sprachmelodik erreicht hat. (A.Z.)Echo an ferner Wolke: Abfolge der Sätze, Texte

Echo an ferner Wolke: Abfolge der Sätze, Texte

1 Moment 1 (ohne Text)

2 Augenblick 1a, 1b, 1c (ohne Text)

3 Moment 2 (ohne Text)

4 HAIKU 1

In vollem Glanze / Am hohen Gipfel Sterne: / Der Kälte Anfang.
Yoku hikaru        / Takaneno Hoshiya           / Kan no Iri        (Murakami Kijo)
よく光る    / 高嶺の星や      / 寒の入り         (村上鬼城)

5 Moment 3 (instrumental)

6. HAIKU 2

In dieser Mondnacht / erhebt sich dort am Felsen / Der Ruf der Frösche.
Tsukino yoya             /  Ishini Noborite                    / Nakigaeru                  (Takakuwa Rankou)
月の夜や      / 石に登りて        / 啼蛙          (高桑闌更)

7 Augenblick 2a, 2b, 2c (ohne Text)

8 HAIKU 3

Die Deutzienblüten / So weiss um Mitternacht wie – / Der Strom des Himmels.
Uno Hanamo          / Shiroshi Yonakano                    / Amanogawa        (Ikenishi Gonsui)
卯の花も    / 白し夜中の        / 天の川   (池西言水)

9 Moment 4 (ohne Text)

10 GEDICHT

[Nachsommerlich…]

die Nacht und ja
die Rosen ranken sich
und blühen noch
das Laub ist lang schon bunt

ich schaue hoch
stehe gebannt und horche

Wega blinkt hell        ich seh’ die Leier 

denk’ sie mir heute mit ... mit wie ... ja mit wie vielen Saiten?
       könnt’ ich sie zählen ... hörte ich dann ihren Klang?

ich denk’ sie heute nur mit vier –
        eine für jede Jahreszeit
eine für jede Mondphase
eine für jedes Temperament

was lässt mich Liebe denken?  
                    und an den Gott der Diebe ...

die Nacht ist lau
            ein Märchen nähert sich

und mir ist plötzlich kalt
                            (Ingrid Fichtner)

11 Augenblick 3a, 3b, 3c (ohne Text)

12 Augenblick 4a, 4b (ohne Text)

13 HAIKU 4

Zu meinen Füssen / Lässt sich die Sonne nieder / Auf wilde Astern.
Ashimotoni    / Hi ochite Akino        / Yamabenari      (Kobayashi Issa)
足元に      /日落ちて秋の        /山辺なり          (小林一茶)

14 Moment 5 (ohne Text)

15 Moment 6 (ohne Text)

16 FINALE 1

Altjahrgongschläge / ihr Echo an der fernen Wolke, / in der Monddämmerung
Joyano Kane           / Tookuno Kumo no                   / Tsukiyake ni    (Hara Sekitei)
除夜の鐘     /遠くの雲の          /月やけに      (原石鼎)

17 FINALE 2

Das Jahr geht zuende / der Kirschblütenfluss / voller Unrat.
Yukutoshi ya               / Akuta nagaruru           / Sakuragawa   (Yosa Buson)
行年や       /芥流るる      /さくら川   (与謝蕪村)

Dramoletto (2017)

Hybride Musik für Kontrabass, Streichquartett und Streicherchor

Diese Musik wird von verschiedenen Motoren angetrieben. Während der ganzen fünf Minuten, welche das Stück dauert, zupft der Kontrabassist die Saiten seines grossen Fünfsaiters, als ob dieses klassische Orchesterinstrument ein Jazzbass wäre. Mitunter beginnt er sogar Basslinien zu swingen, als ob sie von Ray Brown erfunden worden wären. Dieweil der Streicherchor – immer mit Dämpfer – parallele Cluster streicht, die Iannis Xenakis hätten einfallen können, Melodien spielt, die mit dem Jazz gar nichts zu tun haben, dann in eine Harmonik gleitet, die eine klare innere Logik zu haben scheint… Daneben sitzt ein Streichquartett, das scheinbar völlig unabhängig vom übrigen Geschehen agiert. Welten kommen zusammen und finden sich zu vergnügtem Nebeneinander, nicht ganz konfliktfrei, doch immer wieder in enger Kommunikation: Ein Dramoletto der Koexistenz des Unvereinbaren. (A.Z.)

Fördernd ist es, das grosse Wasser zu durchqueren (2016)

für Violoncello, Klavier und Perkussion
10-12 Min.
Auftrag des Ensemble Lémur

Ein Stück, das von den Interpretinnen und Interpreten vor allem Virtuosität des Hörens und genauen Ausbalancierens der musikalischen Interaktion zu dritt verlangt. Es entstehen unterschiedliche, in die Tiefe gestaffelte, eher undramatische Klangräume. Die Zuhörenden werden eingeladen, hörend in ihnen auf Entdeckungsreise zu gehen. Die Klänge oder Klangmischungen haben Poesie und können assoziative Räume öffnen. So mag der Anfang des Stücks klingen wie ein Haiku von Shûson: «Im schwachen Lichtschein / Bei tiefer Stille lautlos / Die Wolken ziehen.» Nach der Mitte könnte an Buson gedacht werden: «Die kurze Nacht, ach, / Blieb in der Furt zurück als – / Ein Stückchen Mondlicht.» Aber Vorsicht: Da rasen die Klänge in ziemlich forschem Tempo. Gegen Schluss könnte Seisei berichten: «Vom Fluss im Norden, / vor wolkenloser Sonne, / Die Vögel hinziehen.» Nur: Haikus wie diese werden keineswegs musikalisiert oder gar vertont. Es ist ein Werk, das aus rein abstraktem musikalischem Denken heraus entsteht und sozusagen auch im «strengen Satz» komponiert ist. Denn: Fördernd ist es, das grosse Wasser zu durchqueren.
(A.Z.)

On The Move – In a Roundabout Way (2015/16)
Music for Electric Bass and 14 strings

Auftrag von Musikdorf Ernen für den Bassisten Arnulf Ballhorn und das Festivalorchester von Musikdorf Ernen

Die Anfrage von Musikdorf Ernen an mich, ein Kontrabass-Konzert für Arnulf Ballhorn zu komponieren, löste bei mir sofort die Rückfrage aus, ob es denn auch ein Werk für Elektrobass und Streicher sein dürfe, denn Ballhorns von Andreas Kristall gebauter sechssaitiger bundloser Elektrobass hatte mich wegen seines besonderen Klangs sofort fasziniert. «On the Move – In a Roundabout Way» (der englische Titel hängt mit dem Ursprung des Instruments in den USA zusammen) nähert sich auf immer wieder anderen «Umwegen» dem Klang, aber auch der Tradition des Elektrobasses an, einer Tradition, die nicht von den für das Instrument geschriebenen Werken geprägt ist, sondern die Geschichte der E-Bassistinnen und -Bassisten ist, die das Instrument seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts je verschieden und immer wieder neu für sich erfunden haben. So erfindet sich auch das neue Werk in sechs zusammenhängenden Sätzen neue Klang- und Ausdrucksräume, in welchen sich Arnulf Ballhorn und sein Instrument bewegen. (A.Z.)

4. Streichquartett (2015)
11 Episoden – 14 Momente und ein Faden – 23 Episoden – 14 Variationen

Das persönliche Ausdrucksbedürfnis eines Komponisten ist viel weniger wichtig, als es die Klänge sind. Sobald ein Ego dezidiert mitzuspielen beginnt, sind die Klänge dazu gezwungen, mehr zu sein als einfache Tatsachen. Die Klänge im 4. Streichquartett haben nicht – wie sonst oft – die zusätzliche Aufgabe, auch aussermusikalische Sinneseindrücke zu transportieren. Sie sind nichts anderes als Klänge. Alle Emotion, die wir beim Hören empfinden können, kommt aus ihnen, denn die Klänge selber laden uns zu einem Hör-Erlebnis ein. Die Phase in der Musikgeschichte, in welcher die Klänge mehr als sich selber zu sein hatten, war verhältnismässig kurz, wirkt aber bis heute nach; sie prägte vor allem das 19. Jahrhundert.

Dennoch mag es im 4. Streichquartett immer wieder musikalische Momente oder Gesten geben, die uns beim Hören an in anderer Musik Erlebtes erinnern. Und doch sind sie eigentümlich verschieden. Im neuen Kontext lassen sie sich neu aus sich selber heraus erleben. Selbst die Qualitäten einer vorgefundenen Melodie aus dem europäischen Mittelalter, wie sie am Ende des Satzes «14 Variationen» aus einem Metamorphose-Prozess entsteht, mögen neu-anders erfasst werden.

Im 4. Streichquartett setzte ich mich mit Fragen des rein musikalischen Denkens auseinander. Wie kann Form aus kleingliedrigen Episoden entstehen? Wie kann eine Folge von musikalischen Momenten eine Narration ergeben? Wie wirkt Voraushörbares auf Unmittelbares, Überraschendes ein? Gibt es Brücken zwischen Widersprüchen? Wie kann aus einem Plural innermusikalische Logik entstehen?

Das 4. Streichquartett hat vier unterschiedliche Sätze, die in Kreisform angeordnet sind: Eine Aufführung kann mit jedem Satz beginnen ¬– ein Zyklus also wie die vielen Zyklen im Leben. Mit einem Augenzwinkern habe ich mich nach Fertigstellung entschlossen, folgenden Hinweis in der Partitur zu vermerken: «Es empfiehlt sich, an winterlichen Tagen mit ’11 Episoden‘, an frühlingshaften Tagen mit ’14 Momente…‘, an sommerlichen Tagen mit ’23 Episoden‘ und an herbstlichen Tagen mit ’14 Variationen‘ zu beginnen.»
Also doch noch ein winziger Rest aussermusikalischer Poesie…

Das 4. Streichquartett entstand im Auftrag der Gesellschaft für Kammermusik Basel und ist ihr gewidmet.
A.Z.

Fatrasie – Hommage à Jürg Wyttenbach (2015)
für Streichquartett

Ein Riesenvergnügen dürfte der Komponist Jürg Wyttenbach – dieser Meister des Absurden im Konkreten und Liebhaber des Deftigen – bei der Lektüre der «Fatrasien» empfinden, welche im 13. Jahrhundert im nordfranzösischen Arras gedichtet wurden: absurde mittelalterliche Poesie zur Fastnachtszeit, pure, strenge, mitunter zotige Wort-Klang-Spiele. Ralph Dutli hat die Texte meisterhaft ediert und übersetzt. Ein solcher Text wird in der «Fatrasie – Hommage à Jürg Wyttenbach» von den Mitgliedern des Streichquartetts auf bizarre Weise gesprochen, altfranzösisch, aber mit der Färbung der Muttersprache des jeweiligen Spielers. Dazu werden auf den Instrumenten Rhythmen gespielt, welche aus der systematischen Sammlung von Marschtrommel-Rhythmen stammen, die sich in Thoinot Arbeaus «Orchésographie» (Langres 1589) findet. Anstelle eines Bogens verwenden die Spieler jeweils ein chinesisches Essstäbchen zur Klanganregung der Saiten ihrer Instrumente. Eine kurze, absurde musikalische Situation für Jürg Wyttenbach zum 80. Geburtstag!

Die «Fatrasie» kann als Interpolation an einer bestimmten Stelle im 4. Streichquartett gespielt werden, ist aber genauso auch eine Art «Encore».
A.Z.

il tuo fiato riposa
sotto il cielo d’agosto

für 14 Solostreicher (2014)
Dauer ca. 15 Minuten

Ein bildloses Stück zwischen intensiver Bewegung und Stillstand. Abstrakter, differenzierter Klang, der durch eine Verfeinerung beziehungsweise Neubefragung der Satztechnik für Streicher entsteht und der mich hoffentlich in für mich neue Ausdrucksbereiche führen wird. Der Titel stammt aus dem Gedicht «terra rossa terra nera» (1945) von Cesare Pavese. Oft ist die Entstehung eines neuen Werks bei mir von der Beschäftigung mit der Kunst anderer begleitet (Literatur, bildende Kunst, Architektur). Eine direkte Verbindung lässt sich zwar meist nur schwer oder gar nicht finden, aber die Auseinandersetzung beflügelt die eigenen Gedanken. Schon seit Jahrzehnten beschäftigt mich die Poesie Paveses immer wieder. Ein erneuter Versuch, Paveses Sprach-Welt zu verstehen, steht am Anfang dieses Stücks. (A.Z.)

instabilis tellus, innabilis unda (Klavierstück 10) (2000)
für Klavier vierhändig

«Und, wenn Erde darin auch enthalten und Wasser und Luft, so war doch die Erde nicht fest, nicht schwimmbar die Fluten, fehlte der Luft das Licht.» Ein Stück Weltliteratur – wie stark klingt doch die Sprache zu Beginn der «Metamorphosen» von Ovid, selbst in der deutschen Übersetzung von Erich Rösch. Beschrieben wird der Zustand der Welt vor der Schöpfung. Eine äusserst heterogene Klangwelt entsteht im vierhändigen Klavierstück «instabilis tellus, innabilis unda». Klangzeichen stehen nebeneinander oder prallen kraftvoll aufeinander; Zeichen, die vermeintlich nicht zusammengehören. Dennoch formen sie sich zur Ordnung. Ovids Text wurde während des Kompositionsprozesses gleichsam Buchstabe für Buchstabe zu Klang. Auch dem grossen Schöpfer der «Schöpfung» – Joseph Haydn – wurde in dieser Weise ein «Buchstabe» gewidmet.

«Instabilis tellus, innabilis unda» wurde für das Klavierduo von Gertrud Schneider und Tomas Bächli geschrieben und ist Gertrud Schneider zum 60. Geburtstag gewidmet. (A.Z.)

Rêve — réalité (Hommage à R.D.) (2015)

Musikalisierung eines Textes von Robert Desnos für Mezzosopran solo

In «rêve – réalité (Hommage à R.D.)» erklingen die beiden Gedichte «J’ai tant rêvé de toi» und «Le dernier poème» von Robert Desnos (1900-1945).

Robert Desnos starb am 8. Juni 1945, einen Monat nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt, im Lazarett an Typhus. Drei Tage vor seinem Tod wurde er vom tschechischen Studenten Joseph Stuna identifiziert. In der tschechischen Zeitung «Svobodne-Noviny» erschien am 1. Juli ein Nachruf, in welchem die letzte Strophe von «J’ai tant rêvé de toi», approximativ ins Tschechische übersetzt, publiziert wurde. Der Nekrolog gelangte nach Frankreich, wo das Gedicht wiederum approximativ, aber sehr klangvoll ins Französische rückübersetzt in der Presse als Desnos‘ letztes, in Theresienstadt verfasstes Gedicht erschien. Noch 1953 wurde «Le dernier poème» am Schluss des postumen Desnos-Gedichtbandes «Domaine public» gedruckt. Lange, sehr lange hat also die Illusion eines «letzten Gedichts» von Robert Desnos überlebt.

Solche Veränderungen, die durch mediale Übertragungsvorgänge entstehen und die Desnos‘ «Le dernier poème» hervorgebracht haben, interessierten mich in «rêve – réalité» auch auf anderen Ebenen. Ein Liebesgedicht, das eindeutig ein Mann an eine Frau richtet, wird hier von einer Frauenstimme gesungen. Dann wird der Klang der Sprache vom bestens verständlichen Sprechen über das Flüstern immer mehr musikalisiert, demzufolge löst sich die Semantik der Sprache sukzessive auf. Mit dem ganzen Spektrum zwischen den Extremen der gesprochenen Sprache und ihrer Auflösung in gesungene Phoneme wird der Text «J’ai tant rêvé de toi» vielschichtig zu Musik, während am Schluss «Le dernier poème» ganz schlicht und liedhaft erklingt.­
A.Z.

Orgelbuch (2013)

Der neunteilige, im Jahr 2013 komponierte Zyklus «Orgelbuch» setzt sich mit der Tradition des sogenannten «strengen Satzes» und des reinen, strukturierten Klangs in der geistlichen Musik vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart auseinander. Das Interessante an der Geschichte der geistlichen Musik ist, dass die Komponisten sich vor der Aufklärung kaum um die Vermittlung von Textinhalten kümmern mussten, da diese klar und nicht musikalisch erklärungsbedürftig waren. Die Klänge und Strukturen ihrer Musik waren gerade deshalb stark und experimentell: Die Komponisten wollten der Kirche das Mutigste und Beste geben, was sie zu geben hatten. Ihre Musik bewegte die Hörenden im Geist und im Körper, doch stand sie für sich, denn sie hatte (noch) nicht die Aufgabe eines Transportmittels von Inhalt zu erfüllen, wie das später – vor allem im 19. Jahrhundert – der Fall war.

Gerade die Auseinandersetzung mit der experimentierfreudigen Haltung der Komponisten vom Spätmittelalter bis zum Barock empfand ich während der Arbeit am «Orgelbuch» als äusserst erfrischend und belebend für mein eigenes musikalisches Denken, und ich bedanke mich dafür postum unter anderem bei Guillaume de Machaut, Guillaume Dufay, Josquin Desprez, Girolamo Frescobaldi und Dietrich Buxtehude. Es gibt in den drei Choralfantasien des «Orgelbuchs» indes auch Momente, wo aus dem Choraltext-Inhalt eine musikalisch poetische Idee gewonnen wurde (siehe unten). Interessiert hat mich dabei vor allem, wie scheinbar Unvereinbares wie eine alte, in einer völlig anderen musikalischen «Sprache» geschriebene Choralmelodie mit dem musikalischen Denken von heute verbunden werden kann.

Alle neun Stücke des «Orgelbuchs» sind ganz vom Gedanken her komponiert, die Zuhörenden zu einem innerlich offenen, entgrenzten Hören einzuladen, sie auf eine durchaus emotionale Reise des beziehungsreichen Hörens von Klang mitzunehmen. Und auf dieser Reise auch den «Geist» zu erleben, den Atem, Hauch, Braus, der im reinen Hören Gegenwart wird – und der im Christentum der «Heilige Geist» genannt wird. Das «Orgelbuch» ist gleichzeitig eine Art abstrakte Orgelsinfonie und eine Art Pfingstgottesdienst in Klängen. Es ist dem Organisten der Uraufführung, Peter Freitag, gewidmet.

Zu den einzelnen Sätzen:

1. Gruss

Ein dreistimmiger Proportionskanon im Abstand der grossen Terz. Singen, Dasein in Klängen – und ein Begrüssungsruf.

2. Choralfantasie I «All Morgen ist ganz frisch und neu»

All Morgen ist ganz frisch und neu / des Herren Gnad und grosse Treu; / sie hat kein End den langen Tag, / drauf jeder sich verlassen mag.

Drum steht der Himmel Lichter voll, / dass man zum Leben sehen soll, / und es mög schön geordnet sein / zu Ehren Gott, dem Schöpfer dein.

So hat der Leib der Augen Licht, / dass er dadurch viel Guts ausricht / und seh auf Gott zu aller Frist / und merk, wie er so gnädig ist.

O Gott, du schöner Morgenstern, / gib uns, was wir von dir begehrn: / Zünd deine Lichter in uns an, / lass uns an Gnad kein‘ Mangel han.

RG 557, 1-4

Die Choralmelodie der ersten Strophe entsteht am Anfang in einem gut viereinhalb Minuten dauernden Prozess durch eine fortwährende Metamorphose aus den amorphen Klangelementen des Anfangs: ein Werden. In der zweiten Strophe erklingt sie in zwei verschiedenen Geschwindigkeiten gleichzeitig und doch eng aneinander gebunden: verlangsamt im Pedal und auf den Manualen mit besonderen Farben harmonisiert, beschleunigt in der extremen Höhe, immer wieder beim Choralton des Basses neu ansetzend. Die dritte Strophe singt den Choral auf alle Lagen verteilt, die vierte vor einem leise gezeichneten Hintergrund einerseits mächtig brausend mit komplexer Harmonik, aber auch verinnerlicht in fasslicher Einstimmigkeit.

3. Reflex

Verspiegelte Erinnerung an den gregorianischen Hymnus «Veni creator spiritus» und an den cantus firmus-Satz; ein Nachdenken in Klängen.

4. Ruf

Das liturgische Rufen hat im Gottesdienst Tradition: Kyrieleis, Gotterbarm, de profundis clamavi, Alleluja…

Ein Rufen nach innen und nach aussen, Zeichen und Signale in unterschiedlichen musikalischen Verhaltensweisen.

5. Choralfantasie II «O Heil’ger Geist, kehr bei uns ein»

O Heil’ger Geist, kehr bei uns ein / und lass uns deine Wohnung sein, / o komm, du Herzenssonne. / Du Himmelslicht, lass deinen Schein / bei uns und in uns kräftig sein / zu steter Freud und Wonne. / Sonne, Wonne, / himmlisch Leben willst du geben, wenn wir beten; / zu dir kommen wir getreten.

Steh uns stets bei mit deinem Rat / und für uns selbst auf rechtem Pfad, / die wir den Weg nicht wissen. / Gib uns Beständigkeit, dass wir / getreu dir bleiben für und für, / auch wenn wir leiden müssen. / Schaue, baue, / was zerrissen und beflissen, dich zu schauen / und auf deinen Trost zu bauen.

Du süsser Himmelstau, lass dich / in unsre Herzen kräftiglich / und schenk uns deine Liebe, / dass unser Sinn verbunden sei / den Nächsten stets mit Liebestreu / und sich darinnen übe. / Kein Neid, kein Streit / dich betrübe; Fried und Liebe wirst du geben, / Fried und Freude uns zum Leben.

RG 504, 1, 3, 5

Am Anfang stand die Entdeckung, dass zu der mir seit der Kindheit wohlvertrauten Choralmelodie «Wie schön leuchtet der Morgenstern» (RG 653) auch ein Pfingst-Text existiert, nämlich im Lied 504 des reformierten Gesangbuchs. Die Form des Stücks ist an sich einfach: Ein «Brausen» und der Choral wechseln sich ab. Nach einer längeren Einleitung erklingt die erste Strophe im Bass, aber stark verlangsamt: Der Sänger, die Sängerin stammelt, sucht nach Worten, singt gleichsam «in Zungen» wie die Jünger an Pfingsten. Die folgende Strophe führt uns nach einem Zwischenspiel musikalisch auf die Suche nach dem «rechten Pfad»: Wie in einem Labyrinth bewegt sich die Choralmelodie über die drei Manuale und das Pedal der Orgel, sie ist verborgen in einer Vielfalt von Ereignissen und doch hörbar da – das kann nur von einem sehr virtuosen Organisten bewältigt werden! Nach einem weiteren, kürzeren Zwischenspiel ist die Choralmelodie der letzten Strophe sehr deutlich hörbar, und sie wird mit neuen Harmonien beleuchtet: Jeder Choralton hat gleichsam einen «elektronischen» Klang-Lichtschweif hinter sich. Und der Choral wird mehr und mehr ins Innere des Menschen geführt, wo er sich verliert.

6. Freude

Gloria

Alleluja…

«Du lehrst mich kennen / den Pfad des Lebens, / Sättigung mit Freuden / ist vor deinem Antlitz, / Mildheit in deiner Rechten / immerdar.»

Psalm 16, 11 (Verdeutscht von Martin Buber)

Ein dreiteiliges, melodisch singendes Stück. Der Gesang des Instruments ist zunächst eher atemlos und drängend, dann vereinfacht, einstimmig und in sich ruhend, schliesslich lichtvoll und ruhig atmend. Doch immer gibt es auch kleine Störungen: Wie wichtig sind Störungen in der Musik; sie halten den Geist wach, öffnen neue Wahrnehmungsräume. Dann erst kommt Freude auf.

7. Braus

Gleich am Anfang der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig, bei der Schöpfungsgeschichte, ist ein kräftiges Bild für den Heiligen Geist zu lesen: «Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser». Im Orgelstück «Braus» wird dieses Brausen Klang mit einem komplexen harmonischen Rauschen, das von Prozeduren der elektronischen Klangsynthese abgeleitet ist. Statische, kräftige, fast wie Klangskulpturen in den Raum gesetzte Klangblöcke werden schnell bewegten, leiseren Passagen gegenübergestellt: Das Brausen, stark bewegtes Wasser, eine Ton-Achse als Horizont. Ordnungen entstehen.

8. Hauch

«er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens, und der Mensch wurde zum lebenden Wesen.»

1.Mose, 2, 7 (Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig)

Klang, nichts anderes, in strenger Ordnung. Ein radikaler Ausdrucksraum.

9. Abschied (Choralfantasie III «Bevor die Sonne sinkt»)

Bevor die Sonne sinkt, / will ich den Tag bedenken. / Die Zeit, sie eilt dahin, / wir halten nichts in Händen.

Bevor die Sonne sinkt, / will ich das Sorgen lassen. / Mein Gott, bei dir bin ich / zu keiner Stund vergessen.

Bevor die Sonne sinkt, / will ich dir herzlich danken. / Die Zeit, die du mir lässt, / will ich dir Lieder singen.

Bevor die Sonne sinkt, / will ich dich herzlich bitten: / Nimm du den Tag zurück / in deine guten Hände.

RG 606

Eine asymmetrische Bogenform. Zu Beginn wird die aus dem 20. Jahrhundert stammende Choralmelodie vorgestellt, und sie löst einen von ihr abgeleiteten Prozess der Verdichtung und Beschleunigung aus, auf dessen Höhepunkt die erste Zeile der ersten Choralstrophe erklingt. Die vier Strophen erklingen nun hintereinander in den Zungenregistern in einem Prozess des Verlangsamens und in die Tiefe Sinkens: Es ist, wie wenn der Motor eines alten Tonbandgeräts sehr langsam gedrosselt würde. Eine kontrapunktische Gegenstimme kreuzt den Choral und endet in den hohen Registern.
A.Z.

Matterkanon (2009) 60′

Installation in der Form eines vierstimmigen Prolationskanons für Max Matter

Der Matterkanon ist für die Feier der Übergabe des Kulturpreises der Stadt Aarau an den in Aarau wirkenden, bedeutenden Schweizer Künstler Max Matter im Auftrag der Stadt Aarau entstanden; er erklang erstmals am 26. Juni 2009 im Haus zum Schlossgarten in Aarau, während die Reden zur Übergabefeier gehalten wurden – aus Wettergründen leider nicht im Garten, der dem Haus seinen Namen gab.

Die erste Kanon-Stimme besteht aus elf Klang-Ereignissen, die für den Ort des Erklingens an sich nicht vorgesehen sind, sich aber nun als klingende Tatsachen in den Klang des Biotops einfügen. Sie folgen sich in einem accelerando, welches 60 Minuten dauert. Die weiteren Stimmen setzen sukzessive nacheinander in einer logaritmischen Proportion ein, und ihre accelerandi bewegen sich proportional zur ersten Stimme ebenfalls auf das elfte (Schluss-)Ereignis zu, so dass dieses in allen vier Stimmen gleichzeitig erklingt. Zwischen den Klangereignissen gibt es am Anfang längere, gegen den Schluss hin immer kürzere Pausen, in welchen der Umweltklang des Aufführungsortes unsere Aufmerksamkeit beanspruchen darf.

Die Klangereignisse sind:
1.    Ein elektronischer Klangkomplex. (Zitat aus meiner Oper «Euridice singt»: der Schlangenbiss.)
2.    Der Ruf eines Seeadlers. (Der Adler ist das Wappentier der Stadt Aarau, Rufe von verschiedenen Adler-Arten kommen im ganzen Stück vor.)
3.    Der erste Takt des Prélude der C-Dur-Suite für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach. (Kultur vermengt sich mit Natur, unterschwellig gemeinsame Themen von Max Matter und mir.)
4.    Die Stimme einer jungen Frau sagt: «Matterial». (In der Publikation «Matterialien» hat Max Matter Basistexte und Basisbilder zu seinem künstlerischen Denken versammelt.)
5.    Ein Kanonenschuss. (Im Stadtwappen von Aarau findet sich auch der «Blutbalken», der die Blutgerichtsbarkeit, die ius gladii verkündet. Der Schweizer «Robin Hood» war Bernhard Matter, der letzte Aargauer, der 1854 vom Scharfrichter enthauptet wurde.)
6.    Glocken aus Russland. (Netze, Wege, auf Karten verzeichnet, spannen sich über die Weltkugel, ein grundlegendes Max Matter-Thema.)
7.    Der Ruf eines Kaiseradlers.
8.    Klangbiotop Lisboa. (Ein Ort oder Netz-Knotenpunkt, den Max Matter oft aufgesucht hat und der etliche seiner Werke geprägt hat.)
9.    Der Ruf eines Steinadlers.
10.    Fliessendes Wasser. (Die Lebensader Aaraus ist die Aare, die von Lisboa der Tejo.)
11.    Rufe von Jungadlern.
A.Z.

Mehr als elf (2013/14)

Commedia für eine Opernsängerin (Mezzosopran)
mit Statistinnen und Statisten ad lib.
Text: Zsuzsanna Gahse
Musik: Alfred Zimmerlin –

Das Stück erzählt von einem «Morgen», «Mittag» und einem «Abend» auf einem Platz an einem See in städtischer Umgebung. Eine Frau betritt einen Balkon, von dem aus sie genüsslich die Gegenwart beobachtet und schildert; mitunter macht sie sich zudem Notizen. Durch ihre Kommentare entstehen ambivalente Situationen, bei denen nicht immer klar ist, was Theater und was Theater im Theater ist.

«Mehr als elf» spielt mit vorgefundenen Modellen des Theaters und der Operntradition vom Frühbarock bis zur Gegenwart und transformiert sie in ein Neues. Das Werk versucht somit, bei dem Schritt in die Moderne anzusetzen, den Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in «Ariadne auf Naxos» getan hatten, um ein Jahrhundert später diesen Schritt über die Postmoderne hinaus in die Zukunft zu tun. Ungeschützt, mit nur einer Sängerin, ohne Orchester oder Ensemble. Auch in musikalischer Hinsicht mit Witz und Gespür für die Zeit, die hinter uns liegt und mit Neugier für die Gegenwart; mit einem Sinn für die Menschen, die als Akteure und Handwerker des Theaters am (Musik-)Theater und seinem Weg durch die Zeit bis heute gearbeitet haben.

Aufgang (2014)

Zwei Gedichte von Ingrid Fichtner für Bariton, Altflöte und Gitarre

Frei wird die Landschaft gefegt, in der sich Klänge «wie vor und nach der Zeit» ereignen. Ingrid Fichtners Lyrik hat einen musikalischen Ausdrucksraum erschlossen, in welchem das Subjekt des Komponisten in den Hintergrund rücken kann und Klänge neu zueinander in Beziehung treten können. Ungewohnte Ordnungen können wahrgenommen werden, das dynamische Erwarten und Entwickeln wird durch das einfache, ruhende Sein erneuert. Alles ist in Bewegung in der Zeit, «in der wir alles wieder neu versuchen». Die Gedichte werden nicht vertont, sondern musikalisiert; eingebettet in die Klänge und in den Gesang erhalten sie eine andere Zeit.

Aufgang

Recht irdisch
die nassen Wolken –
Zufälle der Nacht?
Eine heftige Bewegung
fegt die Landschaft frei
blau steht der Baum
der Zaun glänzt violett
die Sonne narrt uns
in die Zeit in der wir alles
wieder neu versuchen

Zauber … Zeichen

wie vor und nach der Zeit
und aus der Höhle einer
Hand gekehrt die Zeichen
wie im Sand verwischt
die Linien und wieder
geholt die Hände Licht
Schrift Zeichen Zauber
wie vor und nach der Zeit

aus: Ingrid Fichtner: Lichte Landschaft – Gedichte, Zürich: Wolfbach Verlag 2012, S.11, S.50. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

«Ohne Titel (Pragma I)» (2012/13)

Für Orchester

Sinfonien sind im Laufe der Gattungsgeschichte immer mehr zu musikalischen Weltentwürfen geworden. Zuletzt hat Dieter Schnebel in seiner «Sinfonie X» diesen grossen Entwurf gewagt, gegen Ende des letzten Jahrtausends, wohl wissend, dass im Zeitalter der Postmoderne solche die Welt zusammenfassenden Synthese-Entwürfe nicht mehr möglich beziehungsweise reine Utopie sind.

«Ohne Titel (Pragma I)» setzt sich mit der Gattung der Sinfonie auseinander, ohne Sinfonie sein zu wollen. In fünf zusammenhängenden Sätzen werden Verhaltensweisen des Sinfonischen gesichtet, beispielsweise das dialektisch Narrative, das Metamorphotische, das Parataktische. Diese Verhaltensweisen werden abstrakt, aber auch expressiv befragt. Es wird mit den in unserem Gedächtnis verankerten Gesten und Bedeutungen einer musikalischen Gattung unserer Kulturgeschichte gebaut. Und sie werden auch gestört – wie wichtig sind doch Störungen für eine lebendige Musik!

Der neue musikalische Kontext ermöglicht es, die Poesie eines narrativen, metamorphotischen oder parataktischen Verhaltens neu zu erleben und zu verstehen, ohne Nostalgie, ohne sie zu feiern: als Pragma, als eine Tatsache. In einer Epoche der verwirrenden und scheinbar wertfreien Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen _ Haydn und Beethoven erklingen heute ebenso als unsere Zeitgenossen wie Cecil Taylor, Metallica, Edward Rushton oder Dieter Ammann – ist das Schaffen verbindlicher musikalischer Tatsachen wohl etwas vom Wenigen, was kompositorisch noch möglich ist.
A.Z.

«Klavierstück 14 (Etude lunaire)» (2012)

Der Mond kreist ca. 384’000 km von der Erde entfernt um unseren Planeten als natürlicher Trabant und hat einen Durchmesser von 3476 km. Für seinen Umlauf um die Erde braucht er real 27 Tage, 7 Stunden und ca. 44 Minuten, scheinbar aber (das hängt mit der Erdrotation zusammen) etwa 28 1/3 Tage. In dieser Zeit verändert er seine Lichtgestalt von Neumond zu Vollmond und wieder zurück. Nicht undenkbar, dass er sich auch gezeigt hat, als ein junger Mensch eine graue Betonwand in Wetzikon mit zehn Buchstaben besprayt hat. «Klavierstück 14 (Etude lunaire)» hat 29 Anfänge und 29 Schlüsse. Am Uraufführungstag (2. Februar 2013) beginnt das Stück mit Anfang 23 und endet mit Schluss 22.A. Z.

Zwei Winterviolen – sechzehn Stationen für zwei Violen (2009)

Der aus Malaysia stammende, in Aarau lebende Künstler und Dichter Lawrence Lee (Khui Fatt, geb. 1948) hat auf Notenpapier sechzehn Kugelschreiber-Zeichnungen zum Leben Buddhas angefertigt. Sie wurden mit der Komposition „Zwei Winterviolen“ mit einem harten Bleistift überschrieben, was meinerseits einen linkischen Strich hervorbrachte. Lee hat darauf meine Handschrift wiederum zeichnerisch bearbeitet.

Lees Zeichnungen wirken mit schnellem Strich hingeworfen, aber auch kraftvoll, vital, freundlich, dämonisch, irritierend. Ein Wintergedicht von Lee verband sich für mich mit ihnen:

Winter

der Lebenshauch auf Ästen
und seine Bilder
häufen sich als Schnee
mit Dank verbeug ich mich
vor seinem Nichts

Lawrence Lee (Khui Fatt)

Die „Zwei Winterviolen“ bestehen aus lauter kleinen Fragmenten. Musikmoment reiht sich an Musikmoment, und doch entsteht ein Ganzes; manchmal mit skizzenhaftem Strich hingeworfen, aber auch kraftvoll, vital, freundlich, dämonisch, irritierend. Das Überschreiben der Zeichnungen, der Bildzeichen, hat teilweise besonders seltsame Klangordnungen provoziert, die ich aber als äusserst erfrischend empfand. Die beiden Instrumente werden gleichsam als ein einziges Instrument verstanden, an welchem zwei Personen arbeiten. Der so besondere Violaklang zeigt sich von ganz unterschiedlichen Seiten. Manchmal wirken die Klänge sozusagen wie im Boden verankert, doch mitunter beginnt ihr Grund zu schwanken und die Klangordnungen werden beunruhigt. Am Schluss hat sich das Geschehen um einen Tritonus in die Höhe geschraubt und theoretisch könnte das Stück – entsprechend transponiert und in der höchsten Höhe – nochmals von vorne beginnen. – Alfred Zimmerlin

«Jeder Augenblick Anfang und Ende» (2006-08, 2012)

für Marimba solo
für Martin Lorenz

Gelebtes Leben und Erinnerung – beides sind unter anderem Grundthemen meiner kompositorischen Arbeit. So interessieren mich die Zyklen, die Kreise, Spiralen. «Jeder Augenblick Anfang und Ende» für Marimba solo ist ein Stück mit 365 Anfängen und Schlüssen (in Schaltjahren 366). An jedem Aufführungstag hat es eine etwas andere Erscheinungsform. Es ist ein Stück, in dem das Zeiterlebnis anders ist als in einer nach narrativen Prinzipien aufgebauten Form. Schon bald nachdem «Jeder Augenblick Anfang und Ende» begonnen hat, beginnen die Zuhörenden zu spüren, dass die Musik immer weiter fortschreiten und nie stillstehen wird. Auch wenn etwas überraschendes, Unerwartetes passiert, kann man als zuhörender Mensch darauf vertrauen, dass die Musik weiter geht. Da sind Klangereignisse da wie lebendige Tatsachen, sie kommen in einen vielfach bewegten Fluss, mitunter so unlogisch wie das Leben selber – und plötzlich, nach etwa einer Dreiviertelstunde, sind sie nicht mehr da. Das Stück hört auf zu leben, es bleibt Erinnerung. (A.Z.)

 «Gänge» (1988)

für Klarinette solo

«Gänge» ist als eine dreiteilige «Begehung» der Plastik-Installation «Raumteiler 88» von Niklaus Lenherr entstanden, welche für die Ausstellung «Annäherungen – Bildende Kunst und Neue Musik» im Mai / Juni 1988 im Ausstellungsraum Kaserne in Basel geschaffen wurde. Die Skulptur, massiv geschreinert aus den wohlbekannten gelben Betonschaltafeln, wie sie auf Baustellen Verwendung finden, griff in den von drei kräftigen Pfeilern gestützten, grossen Raum ein, indem sie die Pfeiler verkleidete, veränderte und sozusagen in Schieflage versetzte.

Aus drei verschiedenen Blickwinkeln beziehungsweise Hörperspektiven wird der mit den drei Objekten umformte Raum mit einer Soloklarinette begangen; die hallige Akustik reagierte bei der Uraufführung je nach Spielort verschieden. «Gänge» bietet also gleichsam drei Mal dasselbe Stück, doch drei Mal neu gehört. Die Intonation ist streckenweise einer pythagoräischen Intonation angenähert, was den Hör-Raum irritiert oder in Schieflage versetzt, wie das Lenherrs «Raumteiler 88» mit der grossen Halle tat. (A.Z., Nov. 2012)

 «Nachtstundenstücke» (2010-12)

Kammermusikzyklus für Sopran und Klavier; Violine, Violoncello und Klavier; Bassflöte, Viola und Harfe; Violoncello und Klavier

Re, die Sonnengottheit der alten ägypter, starb jeden Abend und wurde in die Unterwelt hinein neu geboren. Dort durchfuhr Re auf seiner Nachtbarke die zwölf Stunden der Nacht. Jede Stunde war nicht allein Zeit, sondern auch ein Raum, verschlossen durch ein schwer bewachtes Tor. In den Räumen vollzogen Re und sein Gefolge streng ritualisierte Handlungen, die den Toten zum Leben im Jenseits verhalfen. In jedem dieser Zeit-Räume geschah ähnliches und doch nie das Gleiche. Im «Pfortenbuch» beispielsweise, einem der zahlreichen ägyptischen Totenbücher, wird das Geschehen sozusagen wie ein Theaterstück geschildert: in zwölf «Akten», hundert Szenen und einem Schlussbild (der Geburt Re’s in den Tag).

Die Vorstellung von zwölf Zeit-Räumen, die einer nach dem andern durchlebt werden, in denen gleichsam multiperspektivisch ähnliches (und Dramatisches!), doch nie das Gleiche geschieht, hat mich zum Zyklus der «Nachtstundenstücke» mit zwölf unterschiedlich besetzten Kammermusik-Sätzen angeregt. Die Sätze sind eng untereinander verbunden und können doch auch je eigene Klang-Räume sein. Mit der Anregung allerdings sind die Bezüge der Musik der «Nachtstundenstücke» zur altägyptischen Mythologie erschöpft. Es handelt sich also weder um eine «Vertonung» des Pfortenbuchs noch um eine programmmusikalische Schilderung seines Inhalts. Auch die formale Gliederung eines Satzes hat nichts mit der entsprechenden Stunde im Pfortenbuch zu tun.

Die Musik beschäftigt sich auch nicht mit den Toten von damals, sondern – emotionell, abstrakt – mit den Lebenden von heute, mit dem Hellen, dem Dunklen in unserem Erleben. Die Zuhörenden sind eingeladen, in diesen Klang-Zeit-Räumen neugierig ihre eigenen, wachen Hör-Reisen zu unternehmen. – Der Zyklus der «Nachtstundenstücke» setzt sich zusammen aus je einem zweisätzigen Duo für Mezzosopran und Klavier (2010) und für Violoncello und Klavier (2011), einem dreisätzigen Trio für Bassflöte, Viola und Harfe (2010/12) und einem fünfsätzigen Klaviertrio (2010/11). Die Titel der zwölf Sätze – «we’e», «snewe», «chamthe», «ftaw», «tiw», «saw», «safde», «chmane», «psite», «mute», «mutwi’e», «mutsnawse» –entsprechen den Zahlwörtern eins bis zwölf in der ausgestorbenen Sprache des mittleren ägyptischen Reiches.

A.Z.

«Ana Andromeda» (2011/12)

Libretto: Ingrid Fichtner
Musik: Alfred Zimmerlin

«Ana Andromeda» ist der Monolog einer Frau, Ana Andromeda (der Name spielt sowohl auf die mythologische Figur wie auf das Sternbild an), die – begleitet von ihren inneren Stimmen, die die Moiren darstellen könnten – ihre Lebensgeschichte vom dunklen Moment des Todes (oder des Sterbens) bis zur Geburt, dem Moment, dem auch ein Nichtsein vorausgeht (oder auf der Bühne: folgt) in sieben Szenen erzählt. Das Dunkel am Anfang und das Dunkel am Ende sowie die Umkehr der üblichen Chronologie lassen die Frage zu, ob der Schluss (der Moment der Geburt) nicht doch (oder wiederum, auch) als der Moment des Todes – und zugleich wieder als der, als ein Anfang – zu sehen ist, lassen das Leben, trotz des Ablaufens und (Ver)Fliessens der Zeit, trotz aller Bewegung, als etwas in Schwebe erscheinen.

Inhalt: Der Moment der Geburt birgt bereits das Geheimnis der Versetzung in eine andere Welt. Als Kind und Jugendliche ist Ana dem Vater, der ihr die Wirklichkeit und die überwirklichkeit erschliesst näher als der ehrgeizigen, machtbesessenen und rücksichtlosen Mutter. Später lässt sie ein schwerer Unfall, den sie aber überlebt, darüber nachdenken, ob er ihr als Strafe für die Schuld, die ihre Mutter auf sich geladen hatte, beschieden war. Durch eine besondere Begegnung, eine erfüllende Liebe, erfährt sie danach aber noch einmal Sicherheit («Sicherheit ist in den Liebenden»). Als Motto könnte über dem Ganzen stehen: «Mit dem Anfang gibt es ein Beginnen, mit dem Ende endet nichts, das wir wüssten.» (Elazar Benyoëtz) [IF]

Musik: Ein Ensemble mit Oboe (auch Lupophon), Violoncello und Klavier (auch Orgel) und zwei «Schattenensembles», welche aus Lautsprechern zugespielt werden, schaffen um das Publikum herum einen Klangraum, der in verschiedene Richtungen dynamisch in Bewegung ist. Kleine Verschiebungen in der Zeit- und der Tonraumachse bewirken einen das Stück prägenden, besonderen Klang. Es ist ein Klang der schwebt, dem zeitweise gleichsam die Orientierungs-Fixpunkte entzogen werden. Ein Klang vielleicht im Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Der Primat hat indes die Stimme Ana Andromedas. Es ging nicht zuletzt auch darum, für dieses Stück eine Art neues «Belcanto» zu erfinden. Ana wird zudem mit ihrer eigenen inneren Stimme konfrontiert, welche aus einem Lautsprecher auf der Bühne erklingt. Und mit einem Flüsterchor, der aus weiteren, um die Bühne gruppierten Lautsprechern zugespielt wird.

A.Z.

Duo für Violoncello und Klavier (2011)

1. tiw
2. mutsnawse
(aus: «Nachtstundenstücke»)

Re, die Sonnengottheit der alten Ägypter, starb jeden Abend und wurde in die Unterwelt hinein neu geboren. Dort durchfuhr Re auf seiner Nachtbarke die zwölf Stunden der Nacht. Jede Stunde war nicht allein Zeit, sondern auch ein Raum, verschlossen durch ein schwer bewachtes Tor. In den Räumen vollzogen Re und sein Gefolge streng ritualisierte Handlungen, die den Toten zum Leben im Jenseits verhalfen. In jedem dieser Zeit-Räume geschah ähnliches und doch nie das Gleiche. Im «Pfortenbuch» beispielsweise, einem der zahlreichen ägyptischen Totenbücher, wird das Geschehen sozusagen wie ein Theaterstück geschildert: in zwölf «Akten», hundert Szenen und einem Schlussbild (der Geburt Re’s in den Tag).

Die Vorstellung von zwölf Zeit-Räumen, die einer nach dem andern durchlebt werden, in denen gleichsam multiperspektivisch ähnliches (und Dramatisches!), doch nie das Gleiche geschieht, hat mich zum Zyklus der «Nachtstundenstücke» mit zwölf unterschiedlich besetzten Kammermusik-Sätzen angeregt. Die Sätze sind eng untereinander verbunden und können doch auch je eigene Klang-Räume sein. Mit der Anregung allerdings sind die Bezüge der Musik der «Nachtstundenstücke» zur altägyptischen Mythologie erschöpft. Es handelt sich also weder um eine «Vertonung» des Pfortenbuchs noch um eine programmmusikalische Schilderung seines Inhalts. Auch die formale Gliederung eines Satzes hat nichts mit der entsprechenden Stunde im Pfortenbuch zu tun.

Die Musik beschäftigt sich auch nicht mit den Toten von damals, sondern – emotionell, abstrakt – mit den Lebenden von heute, mit dem Hellen, dem Dunklen in unserem Erleben. Die Zuhörenden sind eingeladen, in diesen Klang-Zeit-Räumen neugierig ihre eigenen, wachen Hör-Reisen zu unternehmen. Die beiden Sätze für Violoncello und Klavier – «tiw» (in der Sprache des mittleren ägyptischen Reiches: bcv «fünf») und «mutsnawse« (zwölf) – stehen im Zyklus der «Nachtstundenstücke» an fünfter beziehungsweise zwölfter Stelle. Sie bilden jedoch auch ein selbständiges, zweisätziges Duo für Violoncello und Klavier. In schwieriger Zeit sind sie meinen ägyptischen Freundinnen und Freunden in Kairo gewidmet.
A.Z., Februar 2011

Sehnsucht – Abschied [Isôts Lied]

für Violine solo
aus: Herz-Stücke (2010)
Text: Gottfried von Strassburg
Auftragswerk von LUCERNE FESTIVAL für das Théâtre Musical «Herz Maere» von Angela Bürger Koerfer

Das Théâtre Musical «Herz Maere» – von Angela Bürger Koerfer in prozesshafter Arbeit mit den Interpretierenden entwickelt – setzt sich szenisch rhythmisierend mit der zeitlosen Dreiecksgeschichte von Isôt, Tristan und Marke auseinander. Unglaublich wortgewaltig wurde sie vor achthundert Jahren von Gottfried von Strassburg in seinem Tristan-Versroman gedichtet, und Konrad von Würzburg erzählte sie einige Jahrzehnte später mit nicht minder kraftvollen Bildern. In «Herz Maere» gibt es an Scharnierstellen einige von Alfred Zimmerlin auskomponierte Momente, wo das Geschehen entweder in einem musikalisch-aktionistischen Gestus zugespitzt wird oder aber reflektierend innehält. Isôts Lied «Sehnsucht – Abschied» ist ein solcher Moment des Verweilens. In ihm werden ganz am Schluss des Stücks die extremen emotionellen Spannungen und auch das multiperspektivisch Aufgespaltene der Figuren von Gottfrieds Tristan-Dichtung abstrakt musikalisch gefasst. In einem mehrheitlich leisen, brüchigen, mitunter durchaus erotischen Geigensolo erscheint noch einmal abstrahiert die Essenz der «Herz Maere», der Herz-Geschichte. Dreimal bricht Gottfrieds Sprache fragmentarisch in die instrumentale Musik ein, leise von der Geigerin (= Isôt) geflüstert: «ein lîp, ein leben, ein herze unde ein triuwe.»
A.Z.

Scènes (2010)

für Tenorsaxophon, Fagott, Zuspiel und Live-Elektronik

Arthur Rimbaud hat 1874 mit den Texten in seiner Sammlung «Illuminations» versucht, mit Hilfe der Sprache an andere, bisher unerreichte Orte des Ausdrucks zu gelangen. Schon einmal hatte ich mich mit Rimbaud auseinandergesetzt und in «Villes» für Bariton, elektrische Gitarre, Tuba und Drum-Set (2003) versucht, sein Lebensgefühl und seine kreative Triebfeder in die heutige Zeit zu übersetzen. In «Scènes» nun wollte ich – nicht zuletzt mit der Hilfe der Live-Elektronik – diese anderen Orte des Ausdrucks aufsuchen und gegenwärtig machen: ein Stück im Spannungsfeld von Natur und Kultur, Künstlichkeit und Alltag. «Scènes» besteht aus drei Sätzen. Der erste und der dritte Satz sind in einer Strophenform mit verwandter Anlage gehalten. Im ersten werden die kreativen improvisatorischen Fähigkeiten der beiden Instrumentalisten genutzt, um neue Energien zu mobilisieren, im dritten dann wird ein beinahe orchestraler Klangraum aufgebaut, der plötzlich eine seltsame Biegung erfährt. Der ruhige (und längste) Mittelsatz nun stellt den zumeist leisen, doch sehr körperlichen Instrumentalklang vor ein akustisches Bühnenbild. Und der Instrumentalklang mischt sich mitunter leicht irritierend mit spektralen Klängen. Durchgehend tauchen in überraschenden Momenten gesprochene Textzeilen von Rimbaud auf – Störenfriede, die uns wach halten. Die Texte von Arthur Rimbaud werden von Sara Maurer gelesen.

«Scènes» ist als Auftrag des ICST (Institute for Computer Music and Sound Technology der ZHdK Zürich) entstanden und wäre unmöglich realisierbar gewesen ohne die grosse Unterstützung, die ich vom ICST (Programmierung der Software: Johannes Schütt) erhalten habe. Ermöglicht wurde der Auftrag ebenso durch die grosszügige Unterstützung von Stadt Zürich Kultur.
A.Z.

Seasons, Moon, and Memory (2009)

für Mezzosopran und Klavier

Texte: Emily Dickinson
Musik: Alfred Zimmerlin

Ein Emily-Dickinson-Liederzyklus – und doch keiner. Das Amalgam von Lyrik und Musik, wie es das Kunstlied europäischer Tradition von Schubert bis Schönberg und darüber hinaus kennt, entsteht in einigen Teilen von „Seasons, Moon and Memory“ durchaus. Es gibt eine Schicht, die im emphatischen Sinn «Liederzyklus» ist. Aber es gibt auch andere Schichten, welche diesen Ansatz stören; wo Textverständlichkeit nur momentweise aufscheint, wo die Lyrik nicht nur aus einer Perspektive betrachtet wird, wo die Dichtung sich zum Klangmaterial verselbständigt beziehungsweise die Stimme der Sängerin zu einem kammermusikalischen Instrument wird. Oder wo die Dichtung ganz ausgespart wird. Mitunter bricht das eine oder andere Gedicht gleichsam von aussen in einen abstrakten Kontext ein und möchte sich restlos verständlich machen – was ihm kaum gelingen kann, denn die so prophetisch moderne Lyrik von Emily Dickinson (1830-1886), welche erst Jahrzehnte nach dem Tod der Dichterin den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat, wird sich immer einen Rest Rätselhaftigkeit bewahren.
A.Z.

Klavierstück 11 (2009)

für See Siang Wong

Das Klavier, ein Instrument mit einer grossen, gewichtigen Solo-Literatur und einer eindrücklichen Geschichte virtuoser Interpreten im klassischen Repertoire und im Jazz. See Siang Wong ist ein Pianist, der ganz in dieser Tradition steht. Im für ihn geschriebenen «Klavierstück 11» ist sie gerade deshalb auch mitgedacht. Das Stück ist virtuos, es beschränkt sich klanglich auf das, was mit den Tasten und den drei Pedalen möglich ist: eine respektvolle Verneigung vor der Schönheit des differenzierten Klavierklangs. Dennoch wird der so bekannte Klang in neuen Zusammenhängen frisch ausgehört. Allein mit Satztechnik und einer vielfältigen Harmonik werden ihm andere als die gewohnten Farben abgewonnen, und man gelangt an andere Orte des Ausdrucks. Eine Form in zehn Teilen zwischen Statik und Bewegung, mit einer skulpturalen Wirkung und einer starken Körperlichkeit.
A.Z.

Zwei Winterviolen (2009)

für zwei Violen

Lawrence Lee (Khui Fatt) hat sechzehn Zeichnungen zum Leben Buddhas auf Notenpapier angefertigt. Sie wurden mit der Komposition „Zwei Winterviolen“ überschrieben. Lee hat darauf meine Handschrift als dritte Schicht wiederum zeichnerisch bearbeitet.
A.Z.

Gezeiten der Zeit (2008)

für Streichorchester

Der Schweizer Jura, eine eigenwillige, heterogene Landschaft: Spuren der Kelten und Römer finden sich in diesen Hügeln und Kalkfelsen, Ruinen und Burgen aus dem Mittelalter stehen neben Bauernhöfen und moderner Industrie. Entlang des Jurasüdfusses und quer durch die Jura-Bergketten führen die wichtigsten Verkehrswege zwischen Nord und Süd, Ost und West. Einst war die ganze Gegend vom Jura-Meer überflutet. Spuren seiner Bewohner – Ammoniten, Belemniten, Armfüsser – finden sich überall im Kalk. Sind es die Gezeiten dieses Meeres, welche auf einen Schriftsteller wie Gerhard Meier eingewirkt haben, dass er am Jurasüdfuss, ganz in die lokalen Lebenszyklen eingebettet, grosse Literatur, Weltliteratur schreiben konnte? Ist es das Erleben der Zeitschichten, die sich in dieser Landschaft Jahrhundert für Jahrhundert angelagert haben und die überall gegenwärtig sind, welche seinen Blick von den kleinen alltäglichen Dingen plötzlich in die Welt lenken? Fühle ich mich dem Schreiben Gerhard Meiers so verbunden, weil ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens in dieser Jurasüdfuss-Landschaft gelebt habe? Mein Komponieren ist oft gleichsam ein Dialog mit den Zeitschichten unter uns, mit unserem kulturellen Gedächtnis, aber ganz aus der Gegenwart geführt. Und rein musikalischem Denken entsprungen. Das Streichorchester-Stück «Gezeiten der Zeit» ist dem Andenken an Gerhard Meier (20. 6. 1917 – 22. 6. 2008) gewidmet. Als Motto steht über der Partitur ein kurzer Ausschnitt aus einem Prosagedicht Meiers von 1971: «Der Regen, das Licht, die Nächte sind die Gezeiten der Zeit; das Wohlergehen und das Nichtwohlergehen: Gezeiten der Zeiten.»
A.Z.

Komponieren auf der Zeitsäule

Alfred Zimmerlin im Gespräch mit Anselm Cybinski über sein neues Stück «Gezeiten der Zeit»

AC: «Alpen» heißt das Motto der beginnenden Spielzeit beim Münchener Kammerorchester. Daher die Frage: Welche Faktoren haben Ihren Weg als in der Schweiz sozialisierter Komponist bestimmt?

AZ: Für meine Generation gab es zwei Möglichkeiten. Man konnte zum Studieren ins Ausland gehen, oder aber man blieb in der Schweiz und organisierte sich privat. Ich habe hier ganz hervorragende und großzügige Lehrer gefunden, Hans Wüthrich und Hans Ulrich Lehmann. Zuerst habe ich Musikwissenschaft studiert, aber bald merkte ich, dass das Praktische mir viel näher ist als die Theorie. Als Improvisator auf dem Cello, anfänglich auch der Gitarre war ich schon früh einigermaßen bekannt.

AC: Welche Rolle spielte der Jazz beim Improvisieren?

AZ: Es ging uns damals um eine sehr europäische Haltung. Wir haben die ganze Free Jazz-Szene wahrgenommen, Alexander von Schlippenbach etwa, aber dann kamen bald auch die Skandinavier dazu; Terje Rypdal war für mich ein sehr wichtiger Gitarrist. Die mehrsprachige Schweiz ist ja ein Schmelztiegel: Das Französische ist in der deutschen Schweiz auch immer präsent, das Deutsche und österreichische auch, und das Zusammentreffen von Verschiedenem bringt das Eigene hervor. Ich entdecke hier oft einen Sinn fürs Absurde, aber auch eine gewisse Offenheit.

AC: Auch die Landschaft selbst hat Sie offenbar geprägt…

AZ: Unbedingt, auch wenn mir das eher spät bewusst geworden ist. Der Jura-Südfuß ist eine völlig heterogene Landschaft, geologisch, historisch, kulturell. Wo ich aufgewachsen bin, in Schönenwerd bei Aarau, hat man das Kernkraftwerk von Gösgen im Blick, auf einem Jura-Ausläufer im Ort steht ein Chorherrenstift mit Stiftskirche, das vermutlich in der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts gegründet wurde. Der Dorfkern hat Bauten aus dem 8. Jahrhundert, zugleich gibt es Industrie und einen Biobauernhof, Sie finden aber auch Spuren eines keltischen Schutzwalls, und aus den Felsen habe ich als Kind Versteinerungen herausgeschlagen. Im Nachbardorf Niedergösgen wurde um 1900 auf den Resten einer Burg aus dem 13. Jahrhundert eine Schlosskirche errichtet, auf den Bergfried wurde kurzerhand ein Zeltdach gesetzt, und schon war der Glockenturm da. Dieses Neben- und übereinander der Zeitschichten hat sicherlich eine Parallele in meiner Arbeit mit heterogenen Materialien. Die Auseinandersetzung mit unserem «kulturellen Gedächtnis» ist schon eine Grundthematik von mir.

AC: Die Vorliebe für das Zusammentreffen vermeintlich unverbundener Elemente haben Sie häufig geradezu zum Prinzip gemacht, wenn Sie erkennbare Ordnungen und konstruktive Schemata bewusst brachen. Das führte bis zur Absage an alles Lineare, Narrative. In „Gezeiten der Zeit“ scheint dies nun anders zu sein. Wir verfolgen einen übergreifenden Prozess, der – grob gesagt – erregt und heftig beginnt und nahezu hymnisch endet.

AZ: Es sind eigentlich fünf Materialkomplexe, gleichsam Sätze, die sich gegenseitig durchdringen, die aber zum Teil zerschnitten und ineinander verschachtelt werden. Der Beginn ist ein in sich dreiteiliger Satz in schnellem Tempo, gekennzeichnet von nachklingenden und ausgestalteten Impulsen. Dem folgt ein Komplex «B1». Hier wandern verschiedene Melodiefragmente durchs Orchester und überlagern einander. Das ist auch räumlich wahrzunehmen wenn benachbart sitzende Musiker unisono zusammenspielen. Im Ganzen entsteht eine Art Polyphonie melodischer Gesten, die von anderen Materialien gestört und auch kontrapunktiert werden.

AC: All diese Gesten sind «espressivo» zu spielen. Das Tempo ist bereits deutlich ruhiger, der Duktus lyrisch. 24 Takte später folgt beim Doppelstrich eine weitere Materialschicht.

AZ: Bei «C1» haben Sie einerseits diese solistisch ausgespielten knappen Impulse. Darunter entfaltet sich ein neues harmonisches Konzept. Ich spreche hier von «Raumteilerharmonik»: Der Tonraum zwischen einer oberen und einer unteren Begrenzung – in diesem Fall Violine 7 und Kontrabass – wird durch hinzutretende Stimmen sukzessive aufgeteilt, und zwar annähernd symmetrisch. Das führt zu einer fortwährenden Verdichtung, die schließlich eine Art Cluster erreicht. Wie die harmonischen Unterteilungen, so folgt auch die rhythmische Ordnung dieser Tenuto-Töne logarithmischen Proportionen, die wie ein «Zeitteiler» fungieren. Im Tonhöhenverlauf versteckt sich eine Melodie aus dem 16. Jahrhundert.

AC: Der Pianissimo-Cluster verklingt in einer Generalpause – ein deutlicher Einschnitt.

AZ: Ja, denn es schließen sich nacheinander Varianten der Komplexe «B» und «C» an. Erst nach mehr als 60 Takten beginnt quasi ein neuer Satz, Abschnitt «D». Hier nun kommen Rauschklänge dazu – Vokalaktion, Streichen auf der Zarge, extrem hohe Töne am Ende des Griffbretts. Im Flautando spielt die fünfte Geige eine pentatonische Melodie, später wird diese von der Ocarina geblasen werden.

AC: Ganz offensichtlich eine vorgefundene Melodie…

AZ: Ja, das sind jene Zeitschichten, die mich faszinieren. Ich sammle gern alte Melodien, wobei gar nicht entscheidend ist, woher diese jeweils stammen. Wenn die Ocarina diese Linie wie auf einer Knochenflöte anstimmt, dann soll das unsauber klingen, archaisch und fremdartig, darauf kommt es an.

AC: Anschließend greifen Sie den «Raumteiler»-Komplex ein letztes Mal wieder auf.

AZ: Während die anderen beiden «C»-Abschnitte jeweils Ritardandi waren, handelt es sich hier um eine auskomponierte Beschleunigung. Die Impulse rücken näher zusammen, die Ereignisdichte nimmt zu. Nach der Ocarina-Passage erreichen wir die Schlusskurve. Die vier Bratschen stimmen eine transformierte Agnus Dei-Melodie von Johannes Ockeghem an. Letztlich hat das Stück mit dem Leben zu tun, mit einem Lebenskreis. Deshalb fand ich es richtig, mit einem Agnus abzuschließen. Bei der Vorlage handelt es sich um eine melodische Bewegung durch alle Stimmen nach unten und anschließend wieder hinauf. Dieser Gestus herrscht hier auch. Gleichzeitig setzt hier ein harmonischer Schraubprozess aufwärts ein. Ich arbeite mit modalen Zyklen, mit einer neunstufigen Folge siebenstimmiger Akkorde, bei denen beim Fortschreiten jeweils fünf Töne erhalten bleiben und zwei neue dazukommen. Unmittelbar vor Schluss öffnet sich die Harmonik dann ins Spektrale: die Akkorde bauen sich also wie eine Obertonreihe auf. Diese finale Wirkung wird im letzten Moment aber noch einmal gebrochen.

AC: Dennoch teilt sich der dramaturgische Plan deutlich mit.

AZ: Ja, ich arbeite jetzt mehr als früher mit narrativen Momenten, das kommt auch von der Auseinandersetzung mit Musiktheater oder Hörspielmusiken. Ich finde es wunderbar, wenn ich mein Ich zurücknehmen kann! Es geht nicht um mich sondern darum, dass die Musik klingt, berührt und kommuniziert.

AC: Wie mischt sich der Improvisator in Ihr Komponieren ein?

AZ: Mit dem Ohr. Das Ohr steht über dem System. Allerdings gibt es bei mir nie nur ein System für ein Stück, ich nehme ganz viele Werkzeuge in die Hand, dreissig oder vierzig, manchmal für jede Schicht etwas Anderes. Das Zusammentreffen von Heterogenem lässt sich nicht konstruieren, da muss man ein Netz spannen und die Musik darin halten.

AC: Was bedeutet Ihnen der Titel «Gezeiten der Zeit»?

AZ: Er stammt aus einem Prosagedicht von Gerhard Meier (1917-2008), einem Schriftsteller, der zeitlebens in dieser Jurasüdfuß-Landschaft wohnte: «Der Regen, das Licht, die Nächte sind die Gezeiten der Zeit; das Wohlergehen und das Nichtwohlergehen: Gezeiten der Zeiten.» Bei Meier bezieht sich diese Zeile auf die Erfahrung des älterwerdens. Man möchte immer mehr hören, und das Hörvermögen nimmt ab, man möchte mehr sehen, aber die Sehkraft lässt nach. Man spürt die Zeit im eigenen Körper, versteht die Zeit. Und weiß, dass man nicht alleine ist, weil viele vor uns gearbeitet und gedacht haben. Auf ihnen baut auf, was wir machen. Wir leben auf der Spitze einer Zeitsäule. Unter mir sind viele Leben da gewesen, und dank dieser Leben bin ich da, wo ich bin. Mit dieser Haltung zu Komponieren, ist mir wichtig. Leben spüren, die da waren. Das ist gar nicht religiös gemeint, ich bin kein sehr religiöser Mensch…
(August 2008, Programmheft Münchener Kammerorchester)

Über dieses Wasser (2007/08)

Musik zu einem Tanztheater für zwölf Solostimmen, Tenorposaune, Violine, Schlagzeug Texte: Ingrid Fichtner

Über dieses Wasser wurde für die Königsfelder Festspiele 2008 geschrieben, an welchen der siebenhundertste Jahrestag des Königsmordes an Albrecht von Habsburg und der Königsfelder Klostergründung begangen wurde. Es ist eine Theatermusik, bei der die Grenzen zwischen «Oper», «Ballettmusik», funktionaler Theatermusik und Konzertwerk verschwimmen. Sie nimmt bewusst auch Kontakt auf mit Musik, welche um die Zeit des Königsmordes entstanden ist, insbesondere zur «Messe de Tournai», und sie ist gedacht in einem Kontext, in welchem auch Musik aus dem Mittelalter und der Frührenaissance (Pierre de la Rue) erklingt.

Albrecht von Habsburg war eine mehr als problematische Figur der Geschichte. In Über dieses Wasser konnte es also nicht darum gehen, seiner zu gedenken oder ihn gar zu glorifizieren. Albrecht hat das Erbe seines Neffen Johann unrechtmässig an sich gebracht und dem Gesuch Johanns, es ihm zurückzugeben, nicht entsprochen. Für Johann, gab es in dieser Zeit keine andere Möglichkeit, seine Ehre zu wahren, als den König umzubringen, denn es gab nach Albrecht keine höhere Rechtsinstanz mehr, an welche er hätte appellieren können. Die Grenzen zwischen Opfer und Täter verwischen: Beide sind Mörder, beide sind Opfer.

Aus der Perspektive der Witwe Elisabeth (der Klostergründerin von Königsfelden) und ihrer Tochter Agnes (der grossen Förderin Königsfeldens und bemerkenswerten Diplomatin) wird das Königsfelder Geschehen im Libretto von Ingrid Fichtner gleichsam entlang der Tageszeiten überdacht. In neun Stücken setzt sich die Musik damit auseinander, einerseits abstrakt reflektierend in kurzen Stücken bzw. Ballettmusiken für Violine und Schlagzeug (Ares, Selene, Zeus, Kronos). andrerseits in durchaus dramatischen Szenen oder lyrischen Verdichtungen.
A.Z.

Rezitativ in gebogenem Licht (2007)

für Kontrabass solo

Weitergehen, Buchstabe für Buchstabe, bisweilen stammelnd. Anfänge suchen, um zu formulieren: «Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, dass ihr nach dem Ende fragt?» (Koptisch, 1. Jahrhundert). Klänge, die wie Lichtstrahlen auf eine gebogene Oberfläche treffen. Manchmal klare Reflexe, dann ein schillerndes Flimmern, Spektren. Ein schwingender Körper. Oder ein Gespenst?
Ein Stück instrumentales Theater über das Nachdenken und über den Prozess der Schöpfung.
A.Z.

Cueillis par la mémoire des voûtes (2006/07)

für Saxophonquartett (Ss, As, Ts, Brs) und Streichorchester (5,4,3,3,1)

Wie soll man ein Stück Musik, das keine Geschichte erzählt, sondern einfach musikalische Gedanken vermittelt, mit Worten beschreiben? Der französische Dichter Jean Tardieu hat 1954 ein Prosagedicht veröffentlicht («La Musique»), in welchem er mit seinen poetischen Mitteln eine neue Musik beschreibt, welche er innerlich gehört hat. Ein Satz daraus in einem übersetzungsversuch: «Von allen Seiten – gepflückt von der Erinnerung aus den Gewölben – steigen mir die Verwirrung, die ich liebe und fürchte, das Wirbeln der Mannigfaltigkeit, das Getöse von unendlichen Quellen entgegen.» Cueillis par la mémoire des voûtes könnte ein Stück sein, in welchem Erinnerungen aus den Gewölbekellern unserer Kulturgeschichte auftauchen, gleichsam gefiltert durch die Zeit. Es könnte auch ein Stück sein, das über den tief greifenden Wandel in unserem Umgang mit Geschichte nachdenkt. Vor allem aber ist es einfach Musik, rein musikalischem Denken entsprungen, mit unserer Zeit verbunden.

«at the still point, there the dance is» (2005)

für Viola sola

„At the still point of the turning world. Neither flesh nor fleshless; / Neither from nor towards; at the still point, there the dance is, / But neither arrest nor movement.“ – «Am ruhenden Punkt der kreisenden Welt. Weder Fleisch noch Nicht-Fleisch; weder hierher noch dorthin; am ruhenden Punkt ist der Tanz, doch weder in Verharren noch Bewegung.» Das Zitat stammt aus dem ersten der „Four Quartets“ (Burnt Norton) von T. S. Eliot, geschrieben zwischen 1936 und 1942. Die heterogene Sprache dieser Dichtung, ihre formale Komplexität, der latente Bezug zu Eliots Inspirationsquelle, den späten Beethoven-Streichquartetten, aber auch die Momente des Ausuferns haben mich schon lange beeindruckt. Die erneute Lektüre der „Four Quartets“ (und die von Beethovens op. 131) hat den Entstehungsprozess von „at the still point, there the dance is“ begleitet. Vielleicht ist auch etwas davon in das Stück eingeflossen: Die Klangmaterialien sind heterogen, ziehen sich an, stossen sich ab, und doch wird ein formales Gleichgewicht der Kräfte gesucht. Ein Wegarbeiten, Wegscharren von Material vielleicht, um an den „still point“ zu gelangen – und zu tanzen. Kompositionstechnisch haben mich unter anderem die Scharnierstellen zwischen unterschiedlichen Konzepten der Harmonik interessiert. Insofern ist „at the still point, there the dance is“ auch eine Vorstudie geworden zum sehr viel umfangreicheren Streichquartett Nr. 3 (2005/06), das parallel dazu für die Swiss Chamber Concerts komponiert worden ist. Nicht zuletzt ist „at the still point“ auch eine Hommage an einen grossen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der mir nahe ist: Bernd Alois Zimmermann.
A. Z.

Dinge – Zeit (2005)

Musique concrète für 6 Lautsprecher

Das Historische Museum Baden ist wie eine Arche. Sein Schiffsrumpf birgt Spuren des alltäglichen Lebens aus Baden und Umgebung aus 2000 Jahren. Aussen rauscht das Wasser der Limmat vorbei, dem Meere zu. Man hört die Spuren des Alltags von heute, Verkehr, ab und zu eine Glocke, Baulärm, je nach Standort Museumsbesucherinnen und -besucher, Passanten… Wir leben im Museum gleichsam auf der Spitze einer «Zeitsäule», welche 2000 Jahre in die Vergangenheit zurückreicht.

In der Klanginstallation soll zur Vergangenheit auch die Gegenwart ins Museum geholt werden, als Klang. Denn die Gegenstände im Museum ruhen stumm. Zu sechs ausgewählten alltäglichen Gegenständen werden unauffällig Lautsprecher gestellt. Aus ihnen klingt als Grundklang der Umweltklang von heute, zum Beispiel von den jeweiligen Fundorten oder von einer Umgebung, in der eine heutige Version des Gegenstandes im Gebrauch ist. Die vierundvierzig Schülerinnen und Schüler der zweiten Sekundarklassen von Reto Eglauf und Mark Fry des Schulhauses Pfaffechappe in Baden haben über die Gegenstände nachgedacht, sich von ihnen inspirieren lassen. Sie haben in Forschungsaufträgen Umweltklänge recherchiert, Geschichten, Szenen verfasst, sie haben mit einer «Geräuschkiste» so genannte «Ohrenfilme» produziert, Klanggeschichten, welche sich mit der Vergangenheit und Gegenwart der Gegenstände auseinandersetzen. Und sie haben kurze, einfache, eigens für sie geschriebene Vokalstücke zu den Gegenständen gesungen.

Diese ganze «Produktionsphase» war ein Abenteuer sondergleichen, und es war erstaunlich, mit wie viel Phantasie und eigenen Ideen die Schülerinnen und Schüler ihre teilweise gar nicht einfachen Aufgaben anpackten und wie sie sich das Historische Museum Baden dabei zu eigen machten. Aus all den gesammelten Materialien wurden schliesslich am Computer Klangobjekte hergestellt, welche gemeinsam zu einer Tonspur montiert wurden. Jeder Gegenstand hat so seine eigene Klang-Geschichte erhalten, die aus dem in seiner Nähe platzierten Lautsprecher erklingt.

Geht man nahe an einen einzelnen Lautsprecher heran, sind die Bauteile gut hörbar: die Geschichten, Szenen, «Ohrenfilme», Umweltklänge, die klangmalerischen Chöre. In der Installation erklingen diese sechs Tonspuren simultan, was uns ermöglicht, auch einen Gesamtklang zu hören. Aus ihm treten vielleicht einzelne signalhafte Ereignisse wie ein einfahrender Eisenbahnzug, menschliche Stimmen oder ein in industrieller Umgebung übendes Schlagzeug hervor. Als Ganzes hören wir indessen kochendes Leben, eine schwingende Umwelt. Ein Klang wie von mehr als zehntausend Menschen im Alltag Badens, gestern und heute. Jede halbe Stunde beginnt das Museum zu klingen. Die Vibrationen erzählen von den Dingen, von ihrer Zeit. Und vom Leben.
A.Z.

Euridice singt (2001/03-05)

Szene für Sopran, Oboe, Violoncello, Klavier und Zuspiel-CD Libretto: Raphael Urweider

Orpheus: Der Mythos ist auch ein Bild für den Dichter/Künstler, der den Tod kennt und der an existentielle Grundfragen herantritt. «Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod», schrieb Ingeborg Bachmann. Orpheus sieht die Unterwelt und kehrt lebend – das heisst: mit der Erinnerung – zurück auf die Erde. Das gelingt ihm wegen Euridice; sie gibt ihm die Kraft zu dieser einzigartigen Leistung. Er braucht sie, den Schmerz, um auf eine höhere Ebene der Kunst zu gelangen. Ohne Euridice geht im Orpheus-Mythos gar nichts, sie wird jedoch schmählich von Orpheus im Stich gelassen, denn sein künstlerisches Ziel ist erreicht; er braucht sie nicht mehr.

Im Libretto zur Kammeroper «Euridice singt» gibt der Dichter Raphael Urweider Euridice eine Stimme. Er kommentiert seine Anlage: «Das Stück beginnt nach dem durch einen Natternbiss herbeigeführten Tod Euridices. Orpheus (angedeutet von der Oboe) ist in seiner Trauer um sie verfangen. Er spricht und singt nicht mehr vor anderen Menschen. Allein die Oboe gibt seiner Trauer und dem Zorn Ausdruck. (…) Der Chor ist nicht zu sehen. (…) Naturgemäss nimmt der Chor die sich in der Unterwelt befindliche Euridice nicht wahr, und Euridice interessiert sich nicht so sehr für die ungebrochene Bewunderung, die der Chor Orpheus entgegenbringt.»

Synopsis

Orpheus: Oboe
Euridice: Sopran
Chor: Soundtrack

1. Orpheus, Euridice

Der Schlangenbiss (elektronisch) und Euridices Todesseufzer sind zu hören, Orpheus singt beziehungsweise spielt auf seiner Oboe ein Lamento, welches in dem Moment endet, wo Orpheus alleine an die Oberwelt zurückgeht und Euridice in den Hades umkehren muss. Dieser Augenblick wird gleichsam in Zeitlupe gedehnt. Euridice beginnt sinnend: «ich möchte zeichnen / was dir ähnlich sieht zeitlos wie bäume steine quellen / nicht dem verklingen schwinden ausgesetzt / was musik zu sein hat / die du singst».

2. Chor

Zu einem Dauerton von Orpheus erklingt der Chor der Fans von Orpheus aus Lautsprechern, mit synthetischen Stimmen, ein Rap zu elektronischen Klängen: «gott wie sang er / gott wie sang er / gott wie sang der / gut».

3. Euridice

Euridice reflektiert den Zustand des Tot-Seins, den sie im Grunde geniesst: «im tod ist alles stillstand». Sie vermisst ihren Körper, der vergraben ist und verfault, nicht, er ist «unerheblich wie deine trauer dieser stille hier».

4. Chor, Orpheus

Elektronisches Rauschen, konkrete Klänge: der Wildbach, der einst von Orpheus mit seinem Gesang zum Schweigen gebracht worden ist, tost – und stoppt. Die Fans des Chors monieren, dass sie doch so sehr mit Orpheus um Euridice getrauert hätten, doch der Sänger bringe ihnen keine Dankbarkeit entgegen, «er schwieg er schweigt wo bleibt sein trost / für ihn und unser trost durch ihn hindurch». Simultan spricht Orpheus auf seiner Oboe, aber mit Sprachzeichen, die höchstens Eingeweihte verstehen. Er «morst» den ersten Teil einer alten orphischen Botschaft aus dem 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. «Ich bin der Sohn der Erde und des bestirnten Himmels; doch bin ich himmlischer Herkunft. Das wisst ihr selber. Ich verschmachte vor Durst.» Es schliesst sich eine Art Schlangenbeschwörung an: Das Lamento des Beginns erklingt (mehr oder weniger) im Krebs, und man darf sich ruhig die Frage stellen, ob nicht vielleicht doch Orpheus selber, der mit den Tieren sprechen kann, den Schlangenbiss bewusst herbeigeführt hat, um den Gang in den Hades erleben zu können und mit den Toten zu reden.

5.Orpheus, Euridice, Chor

Orpheus‘ entrückte Beschwörung mündet im (elektronischen) Schlangenbiss, während Euridice durchaus mit Wut über das Verhältnis ihres Geliebten zu den Tieren nachdenkt: «nie würde eine natter sich dir nähern / um dich zu beissen in dein weiches fleisch / selbst nattern winden sich in deinem spiel /du singst für sie ich höre nichts mehr hier». Der Chor fühlt sich von Orpheus verlassen, der mehr und mehr in andere Sphären entschwebt und seinem Martyrium entgegen geht: «wir haben lange / lange mit ihm gelebt / er schien unter uns / in unsrer mitte / mitten in uns / und jetzt ist unsre mitte leer». Gleichzeitig «morst» Orpheus den zweiten Teil seiner Botschaft: «Gebt mir schnell kühlendes Wasser, das dem See der Mnemosyne entströmt.»

6. Intermezzo (Euridice, Orpheus) und 7. Euridice

Eine Erinnerung an die Zeit der Liebe, der Berührung: «ein grosser teil von uns war haut / ausgesetzt der hitze und dem frost / liebster tief ging leichteste berührung». Orpheus und Euridice begegnen sich hier das einzige Mal im Stück und kommen sich in einer Liebesszene nahe, welche als instrumentales Theater realisiert ist. Sie berühren das Fell einer grossen Trommel: Euridice mit ihren Händen und einigen kleinen Gerätschaften, Orpheus mit vibrierenden Stimmgabeln, deren körperloser Klang sich auf dem Fell gleichsam materialisiert. Die Szene überlappt mit einem weiteren reflektierenden Monolog von Euridice. Ein leicht vorwurfsvoller Unterton schwingt mit, obwohl: an sich ist Euridice mit sich selbst im Reinen. Orpheus kann mit seinem Gesang Tiere, Menschen, Steine und Götter so tief bewegen, dass sie ihm gehorchen: «du hältst es mit den tieren wie die götter / sich menschen auserwählen nur zum spiel».

8. Chor

Rappend schwelgt der Chor in der Erinnerung an Orpheus‘ Gesang.

9. Euridice, Orpheus

Orpheus, gänzlich in andere Sphären entrückt, wird zum Religionsstifter. Die Oboe hat er beiseite gelegt und mit einem rituellen antiken Schüttelinstrument vertauscht, welches er bisweilen pulsierend erklingen lässt. Euridice wendet sich auf ihrem Weg in die Unterwelt noch einmal Orpheus zu, der sie jedoch nicht wahrnimmt: «ich war dir treu und du mir treu ergeben / dies lebte gut solange wir uns nah / doch war ich fern für eine zeit dann wuchsen / deine zweifel / flehend dein gesang und / wunderschön ich konnte nie begreifen / woher der zweifel rührte doch gesang / der rührte mich». Langsam entschwebt Euridice in die Schattenwelt: «ich war schon tot gleich tot wie alle toten / schickte mich wie andere namenlose / die keine möglichkeiten sich ersangen / bis du mich riefst dass ich dir wieder folge / du durftest nicht doch kamst um mich zu sehen / nicht um zurückzubringen mitzunehmen / im verlust enthalten war wohl: deine kunst». Ein letztes Mal erklingt der Schlangenbiss – oder hört man die Bacchantinnen, welche Orpheus zerreissen?
A.Z.

ORB_IT (2002/04)

Konzept für eine Klanginstallation mit 28 Lautsprechern

In einem kollektiven und kollegialen Prozess zwischen der Schweiz und der Welt soll eine Art «Welt-Fanfare» mit dem Titel ORB_IT geschaffen werden. ORB_IT besteht aus 168 kurzen «Fanfaren» von 30 Sekunden Dauer, welche von 28 Komponistinnen und Komponisten aus Schweiz und 56 Komponistinnen und Komponisten der ganzen Welt komponiert werden. Diese Stücke, kurze Gedanken, können auch Ausschnitte bzw. Zitate aus bereits bestehenden Werken sein, bearbeitet für eines der ausgewählten Instrumente. Jede komponierend beteiligte Person schreibt oder bearbeitet also zwei «Fanfaren» von je 30 Sekunden Dauer. Sie werden an den achtundzwanzig Tagen, welche den ISCM World New Music Days 2004 vorangehen, in der Schweiz an spezifisch ausgewählten Orten im Freien konzertant aufgeführt, je sechs pro Tag. Die Aufführungen werden aufgezeichnet. In einer Klanginstallation, welche während der ganzen WNMD in Luzern geöffnet sein wird, sind all diese Aufzeichnungen aus 28 Lautsprechern zu hören. Die Werke aus der Welt und aus der Schweiz treten mit dem Klang von 28 spezifischen Biotopen in der Schweiz in einen Dialog, zeichnen in das Biotop Spuren des musikalischen Denkens der insgesamt 84 beteiligten Komponistinnen und Komponisten.

Konzept

Die Kontinente der Welt werden wie ein Puzzle auf die Schweizerkarte gelegt. Jedem der fünf Kontinente – Afrika, Amerika, Asien, Australien, Europa – entspricht somit eine Region aus der Schweiz. Neben der Schweiz sind 56 weitere Länder beteiligt. (48 davon sind Mitgliedländer oder Associate Members der ISCM). Diese Länder werden in den einem Kontinent zugeordneten Regionen placiert. Je ein Schweizer Komponist / eine Schweizer Komponistin aus der entsprechenden Region wird mit je einer/m Komponistin/en aus zwei in der Nähe placierten Ländern zusammengeführt.

Jedem Kontinent bzw. jeder Region wird ein Blasinstrument zugeordnet.
Afrika: Trompete
Amerika: Saxophon
Asien: Posaune
Australien: Tuba
Europa : Horn

Jede/r beteiligte Komponist/in schreibt oder bearbeitet zwei Solo-Stücke von 30 Sekunden Dauer für das seinem Kontinenten bzw. seiner Region zugeordnete Instrument.

Für jedes beteiligte Komponisten-«Trio“ wird in der Region ein Aufführungs-Ort unter freiem Himmel mit charakteristischem Umweltklang bestimmt. Das Projekt reist an 28 Tagen vom 6. Oktober 2004 bis 2. November 2004 von Ort zu Ort, wo jeweils die sechs für diesen Ort bestimmten Werke aufgeführt werden. Sie erklingen zu sechs genau vorgegebenen Zeitpunkten zwischen 07:00 Uhr und 09:00 Uhr. Der ungewöhnlich frühe Konzertbeginn ist bewusst wegen des Umweltklangs gewählt worden, da das Aufwachen eines Lebensraumes am frühen Morgen zu den schönsten Klangmomenten eines Tages gehört.

Von jedem der 28 Konzerte werden die folgenden Zeit-Ausschnitte aufgezeichnet:

06:59 – 07:0207:38 – 07:4008:12 – 08:1408:40 – 08:42
07:11 – 07:1307:47 – 07:4908:22 – 08:2408:49 – 08:51
07:20 – 07:2207:56 – 07:5808:31 – 08:3308:58 – 09:01
07:29 – 07:3108:04 – 08:06

Im Tonstudio werden diese Ausschnitte mit sanften Kreuzblenden in chronologisch korrekter Reihenfolge aneinandergereiht. Jede der 168 «Fanfaren» findet in einem dieser Zeitausschnitte statt. Ziel der Montage ist es, für jeden Ort eine Art «Zeitraffer» der Zeit zwischen 7 Uhr und 9 Uhr morgens herzustellen. Die Musik verbindet sich mit den charakteristischen Klängen des aufwachenden lokalen Biotops.

28 Lautsprecher werden in einem grossen, neutralen Raum aufgestellt. Jeder Lautsprecher repräsentiert einen anderen Ort in der Schweiz, an welchem die «Fanfaren» zuvor aufgenommen worden sind. Die 28 Mono-Spuren werden gleichzeitig (synchron) abgespielt. Eine Aufführung von OR_BIT beginnt mit dem Sieben-Uhr-Schlag aller auf den Aufnahmen hörbaren Glockentürme und endet mit dem Neun-Uhr-Schlag.

Aufnahmeorte: Bern, Seeberg, Solothurn, Rümlingen, Basel, Allschwil, Grellingen, Moutier, Biel, Neuchâtel, Courtaman, St-Triphon, Chêne-Bougeries, Genève, Samedan, Lugano, Bellinzona, Trin, Teufen, Degersheim, Schaffhausen, Frauenfeld, Zürich, Baden, Aarau, Zofingen, Gontenschwil, Luzern

Komponistinnen und Komponisten: João Rafael (Portugal), José López Montes (Spanien), Jean-Luc Darbellay (CH), Arnaldo de Felice (Italien), Ivo Josipović (Kroatien), Ben Jeger (CH), Sascha Andrić (Serbien), Vito Zuraj (Slowenien), Martin Imholz (CH), Peter Ablinger (österreich), Miroslav Pudlak (Tschechien), Daniel Ott (CH), Dieter Schnebel (Deutschland), Marcel Wengler (Luxemburg), Kaspar Ewald (CH), Henri Pousseur (Belgien), Antoine Beuger (Holland), Roland Moser (CH), Roger Tessier (Frankreich), Edward Rushton (Grossbritannien), Peter Sonderegger (CH), Anders Eliasson (Schweden), Harri Suilamo (Finnland), Christian Giger (CH), Pierre Dørge (Dänemark), Jogrim Erland (Norwegen), Hans Koch (CH), Jennifer Walshe (Irland), Kjartan Olafsson (Island), Jean-Philippe Bauermeister (CH), Daniel Almada (Argentinien), Carlos Zamora Pérez (Chile), Laurent Mettraux (CH), Luis Jure (Uruguay), Chico Mello (Brasilien), Marie-Christine Raboud-Theurillat (CH), Javier Torres Maldonado (Mexico), Jacky Schreiber (Venezuela), István Zelenka (CH), Rodney Sharman (Kanada), Lois V Vierk (USA), Jacques Demierre (CH), Pascal Zabana Kongo (Kongo), Alexander Johnson (Südafrika), Peter Cadisch (CH), Charles Uzor (Nigeria), Ali Osman (Sudan), Franco Cesarini (CH), Khaled Shokry (ägypten), Ouanés Khligène (Tunesien), Ivano Torre (CH), Liza Lim (Australien), Kit Powell (Neuseeland), Fortunat Frölich (CH), Makiko Nishikaze (Japan), Hwang Long Pan (Taiwan), Erwin Pfeifer (CH), Christopher Coleman (Hongkong/China), Junghae Lee (Südkorea), Bruno Karrer (CH), Aram Hovhanissyan (Armenien), Rajesh Mehta (Indien), Werner Bärtschi (CH), Rashid Kalimullin (Tatarstan), Faradsch Karajew (Aserbaidschan), Frédéric Bolli (CH), Mahmoud Turkmani (Libanon), Yehoshua Lakner (Israel), Edu Haubensak (CH), Dmitry Renansky (Weissrussland), Victor Ekimovsky (Russland), Christoph Gallio (CH), Bettina Skrzypczak (Polen), Jonas Tamulionis (Litauen), Jürg Frey (CH), Marek Piacek (Slowakei), Peter Eötvös (Ungarn), Dieter Ammann (CH), Patricia Kopatchinskaja (Moldavien), Lyubawa Sidorenko (Ukraine), Esther Roth (CH), Galina Vracheva (Bulgarien), Marius Ungureanu (Rumänien), Thomas K. J. Mejer (CH)

InterpretInnen: Leo Bachmann (Tuba), Patrick Berger (Trompete), Olivier Darbellay (Horn), Laurent Estoppey (Saxophone), Hilaria Kramer (Trompete), Thomas Müller (Horn), Craig Shepard (Posaune), Xavier Sonderegger (Posaune), Ernst Thoma und Alfred Zimmerlin (Aufnahmen und Montage)

Ein Kosmos: Rheinfall (2004)

Installation für Klarinette in B, Tenorposaune, Violoncello und Zuspiel-CD

Das Rauschen des Wassers, das auf seinem Weg zum Meer den Rheinfall bei Schaffhausen hinunterstürzt, berührt uns; es hat einen archaischen Klang. Blicken wir aus einem Satelliten-Orbit auf die Erde, ist der Rheinfall wohl kaum zu sehen; es ist das Blau der Meere, das uns bewegt. Aus Lautsprechern rauscht der Rheinfall, wir umwandern ihn sozusagen, hören ihn aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Drei Instrumente umkreisen auf imaginären Satellitenbahnen in unterschiedlichen Zeitverläufen und Geschwindigkeiten die Erde. Ist senkrecht unter ihnen Meer, schweigen sie und lauschen dem Rauschen des Rheinwassers. Treffen sie aber auf Land, erklingt ihre Musik. In einem zweiten Ansatz ändern ihre Bahnen: Sie markieren sie, indem sie auf ihrem Weg um die Erde alle 30° ein signalartiges, kurzes Stück Musik spielen. Ist da nicht auch ein Klang in uns, der mitschwingt? Ein Stück über das mächtige Ruhen und das Kreisen der Zeit.
A.Z.

Der Teufel auf dem Jahrmarkt (2003/04)

Szenisches Melodram für Sprecher, Violine, Akkordeon und Schlagzeug (Marimba, Glockenspiel, Bouteillophon, Grosse Trommel)
Libretto: Dieter Ulrich, frei nach Nikolaj Gogols Novelle «Der Sorotschinsker Jahrmarkt»

Am Anfang stand die Anfrage für ein Werk, das sich aus heutiger Sicht mit Igor Strawinskys und Charles Ferdinand Ramuz‘ «Histoire du Soldat» auseinandersetzen sollte. Ein Teufel musste her. Fündig wurden Dieter Ulrich (Libretto) und Alfred Zimmerlin (Musik) bei Nikolaj Gogol, diesem revolutionären, russisch/ukrainischen Dichter des 19. Jahrhunderts: bei seiner Erzählung «Der Sorotschinsker Jahrmarkt» (1830). Vom Teufel ist viel die Rede, aber tritt er wirklich in Erscheinung? Die Geschichte, die der Librettist für das Musikwerk dramaturgisch entscheidend umbauen und kürzen musste, hat etwas Erdiges. Viel mehr als vom Teufel handelt sie vom Leben, von den kleinen, menschlichen und allzu menschlichen Dingen des Alltags, jenseits grosser Philosophien. Und jenseits von Strawinsky/Ramuz‘ Moral.

Darf eine Musik zu einer zugegebenermassen deftigen, theatralen Geschichte den Erzählgestus abstrahieren und brechen? Oder soll sie dem Text illustrativ hinterher hasten, ihn vielleicht gar im Sinne des Verismo in eine psychologische Dimension ausweiten? Soll nicht vielmehr das Verhältnis von Text und Musik einmal umgedreht werden, so, dass der Text gleichsam eine mögliche Erklärung für eine abstrakte Musik liefert? Die Auseinandersetzung mit solchen Fragestellungen hat in der Musik ihre Spuren hinterlassen, in welcher beispielsweise ein «Teufelsgeiger» abstrakte, dramaturgisch aufgebrochene Formen schafft, welche lokal dennoch narrativ illustrieren können.
A.Z.

Enteilende Stücke (2004)

für Altblockflöte

Komponiert als Anfangsstück für das Projekt «Luftlosglas» von Martina Joos: Ein Dichter reagiert auf Musik, eine Komponistin auf Dichtung, und so weiter.

Ein Anfang, so schnell und üppig, dass er fast nicht zu spielen ist; ein Energie-Impuls für einen ganzen Abend. Versuche, Melodien zu singen, dann Laute der Flötistin: der Konsonant t, ein Anfang vielleicht von Sprache, wie sie dann später Raphael Urweider schaffen wird. Ein zweiter Anfang: Zwei Altblockflöten, gehalten wie ein Aulos, gleichzeitig gespielt. Einzelne Klänge, Farben, verhaltene Rufe in den Raum. Und so weiter. Fünf Anfänge für einen Abend mit Musik und Sprache, zwei so verschiedenen Ausdrucksformen, die dennoch Gemeinsamkeiten haben können. Dann beispielsweise, wenn sie aus einem zeitlichen Nacheinander von «Bausteinen» bestehen, welche zumeist semantische Bedeutung haben. Dann, wenn sie sich im Mitteilungscharakter treffen. Die «Enteilenden Stücke» spielen auf solche Gemeinsamkeiten an und möchten somit den Boden bereiten für eine fruchtbare Begegnung. Fünf Stücke, die vorüberziehen – und dann enteilen, Platz machen für die Sprache.
A.Z.

2. Streichquartett «mit kleinen Wellen an jedem Blattrand (wie eines Windes Lächeln)» (2003)

für zwei Violinen, Viola, Violoncello

Die Lektüre von Rainer Maria Rilkes «Duineser Elegien» und die Auseinandersetzung mit ihrer hermetischen Sprache hat meine Arbeit am zweiten Streichquartett begleitet. Rilke beklagt darin in einer stark räumlich empfundenen Sprache die Begrenztheit des menschlichen Daseinsraumes (Elegien 1 bis 8), um dann plötzlich in der neunten Elegie gleichsam die Wahrnehmungsgrenzen zu sprengen – aus einem Akzeptieren der erkannten Begrenztheit heraus.

Nicht um die grossen, letzten Dinge geht es. Wichtig ist es, den kleinen alltäglichen Dingen des Lebens achtsam zu begegnen. Dann öffnet sich der Raum in das Andere, wo die Zeit vielleicht anders vergeht. Oder wo wir die andere Zeit ahnen – ein eminent musikalischer Raum. «Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft / werden weniger… überzähliges Dasein/ entspringt mir im Herzen.»
A.Z.

Weites Land (2002/03)

für Violoncello und Zuspiel-CD

Die Situation erinnert an die eines Solokonzerts: ein Cello dialogisiert mit einem «Orchester», das vielstimmig den Lebensraum des Menschen, das Alltägliche und das Besondere, erklingen lässt. Und doch nehmen einem die Umweltklänge, die aus Lautsprechern den Celloklang umfangen, gleichsam den Theaterblick weg, den ein Solokonzert so oft impliziert. «Weites Land» findet seinen spezifischen Ton im Rauschen des Umweltklangs, im Brausen der «Schöpfung», das vielfach variiert wird. Es ist eine Musik, die sich gegen jede Form der Ausgrenzung wehrt, die radikal viel in ihre Klangwelt zu integrieren versucht. Im weitesten Sinn ist «Weites Land» auch eine geistliche Musik, die unter anderem an den Vers 20 im Psalm 18 denken lässt: «Er holte mich heraus ins Weite…». Ein wunderschöner Vers in einem ansonsten doch recht seltsamen Psalm voller Beben, Sturm und Kohlenglut. Die Verse davor (8 bis 16) spielen an die Ohnmacht des Menschen gegenüber den Naturgewalten an, die, brechen sie los, eine gigantische Vernichtungskraft entwickeln können (jüngst am 11. März 2011). Oder sind sie gar ein Hinweis darauf, dass der eine und einzige Gott dreier Weltreligionen einmal als Vulkangott angefangen hat? Fragen unserer Zeit an die Vergangenheit und Gegenwart unserer Kultur branden zusammen in dreissig Minuten Musik. – «Weites Land» ist dem Andenken meines Vaters gewidmet.
A.Z.

Cembalo-Buch (2002/03)

für Cembalo solo

Im «Cembalo-Buch» wird in zehn Sätzen ein einheitliches Klangmaterial aus je verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es ist ein Zyklus im «strengen Satz«, wobei die Strenge durchaus auch einen spielerischen Zugriff ermöglicht. Diese Haltung steht in der Tradition dieses sehr speziellen, historischen Instruments, eine Tradition, welche gleichsam in die heutige Zeit «übersetzt» wird. Das «Cembalo-Buch» enthält eine Bagatelle, zwei Balladen, vier Barcarolen, eine Passacaglia, ein Baccanale und eine Bassedance. Die Bagatelle spielt mit der hypnotischen Wirkung, die ein pulsierender Rhythmus entwickeln kann; sie ist eine virtuose Studie über Polyrhythmik, Polymetrik – und die Unabhängigkeit der Hände der Cembalistin. Die beiden Balladen 1 und 2 haben Erzählcharakter; sie zeigen zudem, dass das Cembalo alles andere als ein monochromes Instrument ist. So schlägt die erste Ballade eher dunkle Töne an, auf welche aufhellendes Licht fällt. Die zweite dagegen besteht sozusagen aus einer heiteren, unendlichen Melodie. Die kurzen Barcarolen 1 bis 4 umfassen je zwölf 6/8-Takte. Es sind Wiegenlieder über das Werden und Vergehen von Struktur, vielleicht vergleichbar dem Zyklus der Jahreszeiten. Die Passacaglia ist ein grosses, polyphones und Rhythmus betontes Stück, das mit der historischen Passacaglia-Form schäkert, wo ein zu Beginn exponiertes Bass-Thema gleichsam endlos variiert wird. Tatsächlich erscheint aber das eigentliche Thema erst ungefähr im Goldenen Schnitt des Stücks, als Resultante von variierten, unterschiedlich langen und sich überlagernden Schleifen (Loops). Im Baccanale wird das Tonhöhen-Material des Zyklus in nuce vorgeführt, als irrwitziger Walzer. Die den Zyklus beschliessende Bassedanse friert die Choreographie des hoch stilisierten höfischen Schreittanzes aus dem 15./16. Jahrhundert ein. Gleichzeitig verabschiedet sich das Cembalo-Buch mit einer «Révérence», einer grossen Verneigung von den Zuhörenden.
A.Z.

Streichquartett (2001/02)

für zwei Violinen, Viola, Violoncello

Die Musik befindet sich zu Beginn in einem dichten Aggregatszustand. Die heterogenen Klänge und Gesten geben eine Betriebsamkeit vor, tun, als ob sie an einen anderen Ort wollten und bleiben doch sozusagen im Stillstand; die Form ist dramaturgisch neutral, das Material entwickelt sich nicht. Schnitt: Die Musik kippt gleichsam in einen anderen Raum, einen anderen Zustand. Die Zeit fliesst anders. Die Gesten sind fragmentarischer, aber gleichzeitig auch sprechender. Darunter liegt eine langgezogene Melodie im Cello, die später mit verschieden gestimmten Stimmgabeln auf alle Instrumente verteilt wird. Es ist extrem gedehnt und auch intervallisch der veränderten Harmonik angepasst die Melodie eines der schönsten Schweizer Volkslieder aus dem 18. Jahrhundert: des Guggisberglied. Anderes Material wurde aus einer Aria aus den Rosenkranz-Sonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber abgeleitet. Keine Nostalgie: Das Volkslied oder Biber sind ebenso Teil unseres kulturellen Gedächtnisses und hier hörbar Gegenwart geworden wie die Gattung Streichquartett.
A.Z.

Neidhartlieder: Winter, Sommer (2001)

für Sopran, vier Renaissance- Blockflöten und Zuspiel-CD
Texte: Ingrid Fichtner, Neidhart von Reuental

Ein einmonatiger Aufenthalt in Kairo im Frühjahr 2001 machte mir schlagartig bewusst, wie in dieser Stadt Vergangenheit, bestehend aus allen Schichten von viereinhalbtausend Jahren Geschichte, mit einer Vitalität sondergleichen präsent ist. Kairo ist eine «Zeitsäule», auf der wir uns in der Gegenwart bewegen. Schon in früheren Stücken von mir spielt die Vorstellung einer «Zeitsäule» – entfernt vergleichbar mit Bernd Alois Zimmermanns «Kugelgestalt der Zeit» – eine grosse Rolle. Der Auftrag, sich in einem Stück für Sopran und vier Renaissance-Blockflöten mit «Einstimmigkeit» auseinanderzusetzen und das Erlebnis von Kairo verschmolzen miteinander. Ich ging zurück in der eigenen Kultur, ins Mittelalter, als die Musik noch einstimmig war (und durchaus Verbindungen zum arabischen Kulturraum aufwies) und stiess auf den Dichter-Sänger Neidhart von Reuental. Neidhart hat am Anfang des 13. Jahrhunderts den Hohen Minnesang revolutioniert, ihn gleichsam auf den Boden der Wirklichkeit geholt. Ich wählte einige seiner Winterlieder (Tanzlieder für die Stube) und Sommerlieder (Tanzlieder für den Anger) aus und gab sie der Dichterin Ingrid Fichtner mit der Bitte, zeitgenössische lyrische Antworten darauf zu schreiben. Fünf ihrer so entstandenen, wunderschönen Gedichte (drei zu Winterliedern, zwei zu Sommerliedern) bilden die eine Grundlage von «Neidhartlieder: Winter, Sommer». Ebenso präsent ist eine Schicht mit den Neidhart’schen Original-Dichtungen und -Melodien. Ich verband sie mit weiteren Materialien, bearbeitete sie mit verschiedenen Kompositionstechniken, die vom Prinzip «Einstimmigkeit» hergeleitet sind. Entstanden ist ein Zyklus von fünf sehr unterschiedlichen Liedern, durch die Neidhart hindurchschimmert, die aber ganz Gegenwart sind.
A.Z.

In Bewegung (La pendule de marbre noir) (2000/01)

für Traversflöte und dreizehn Streichinstrumente

Paysage bleu (2000)

Chor, Orchester und Zuspiel-CD

Wie kann man heute als Komponist auf so grosse Musik reagieren, wie Mozart sie in seiner c-Moll-Messe geschrieben hat? Karl Scheubers erste spontane Bitte, den Mozart’schen Messe-Torso zeitgenössisch zu vollenden, liess mich erst vor überraschung leer schlucken – und löste Gedanken aus: Mozart hatte die Messe aus freiem Antrieb, als Votivstück komponiert, was in seiner Kirchenmusik wohl ein Unikat darstellt. Das verlangt von mir Respekt; der Inhalt des Werkes muss unangetastet bleiben. Auch wenn Mozart selber in Glaubenssachen wohl ziemlich (und hörbar!) respektlos gewesen ist. Ich schlug also zwei Musiken vor, welche die Stellen markieren, wo Mozarts Messe Torso geblieben ist. Sie sollen Distanz schaffen, Distanz aufzeigen und gleichzeitig das Vorhandene und seine Inhalte liebevoll respektieren. Sie können auch für sich alleine stehen und sind dennoch im Wissen um den Zusammenhang, in welchem sie erklingen, geschrieben worden. Ihre Titel verweisen auf zwei Gemälde von Paul Cézanne: Ein Stilleben mit Uhr, in welchem gleichsam die Zeit als Kategorie aufgehoben ist und das dennoch eine beängstigende Dynamik hat. Oder eine Landschaft, die hinter den Farben einen Ort verbirgt, wo die Zeit anders fliesst, als in der Gegenwart.

«In Bewegung (La pendule de marbre noir)» für Traversflöte und dreizehn Streicher knüpft klanglich fern an Mozarts «Et incarnatus est» an, transformiert diesen Klang aber entscheidend. «Paysage bleu» für (textlosen) Chor, Orchester und Tonband beginnt nach dem wunderbaren Pathos von Mozarts «Osanna in excelsis» ruhig und sparsam, eher verhalten. Mehr und mehr erhält es dann einen bewegteren Gestus, wird beinahe zur Tanzmusik, um unvermittelt das Pathos auf zeitgemässe Weise aufzugreifen. Die Kirchentüren werden gleichsam geöffnet – hinaus in die Welt!
A.Z.

In Bewegung (Nature morte au Rideau) (1999/2000)

für Klavier mit Zuspiel-CD und dreizehn Solostreichern

Paul Cézanne hat immer wieder, fast obsessiv, dieselben Motive gemalt: Stilleben mit äpfeln, Orangen und Birnen, oder die Landschaft mit La Montagne Sainte-Victoire. Beim Betrachten der Bilder verstärkt sich der Eindruck, dass es dabei zwar auch um das Zusammenspiel von Farbe, Fläche, Geometrie, Komposition etc. gegangen ist, um Formales also. Die Hauptsache aber scheint mir zu sein, dass die fabelhaften äpfel und Orangen, der Vorhang hinter den Früchten in «Nature Morte au Rideau» (Venturi 731) einfach als Gegebenheiten in unserem Lebensraum wirken, ein Bild für das Sein. Und hinter dem Vorhang – oder im Berg – findet sich ein anderer Ort, wo Zeit anders vergeht, anders fliesst, als in der Gegenwart. Dieses Andere habe ich in «In Bewegung (Nature Morte au Rideau)» gesucht. Der Klang des Konzertflügels wie wir ihn lieben ist eine Realität, allen bekannt. Aber der Kontext, in welchem er erklingt, verändert ihn. Ich versuche, ihn gleichsam zu verflüssigen durch seine Umgebung, durch Satztechnik. Am Ende des Stücks, in einem einfachen Gestus, ist er wieder da, aber am andern Ort.
A.Z.

Anfänge (1999)

für Violine solo

Kurze, vielleicht etüdenhafte Stücke, um neues Terrain zu erkunden, ohne das Alte aufgeben zu wollen. Auseinandersetzung mit Vergangenheit, eine Musik auf der Zeitsäule. Keine zwingende Reihenfolge, kein zwingender Ort im Raum, in der Zeit.
Motto: «Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, dass ihr nach dem Ende fragt?» (Koptisch, 1. Jhd.). «Aller Anfang ist dermassen schwer, dass die ganze Philosophie bisher weiter nichts suchte als eben einen.» (Jean Paul).

Klavierstück 8 (Fantasia) (1998/99)

Klavier

Da könnte die Vorstellung einer Landschaft mit Biobauernhof, Atomkraftwerk, Wegkapelle, Trampelpfad, Autobahn und Schuhfabrik sein. Jedes einzelne Ding hat eine Geschichte und erzählt eine Geschichte. Die Dinge widersprechen sich teilweise, stossen sich ab, und doch gehören sie zusammen in dieses eine Landschaftsbild. So sehe ich auch viele meiner Stücke: Heterogen, widersprüchlich, aber ein Ganzes, das so zusammengehört, denn die Materialien sind durch mich hindurchgegangen. Gewiss können momentweise Geschichten erzählt werden, beziehungsweise, es kann auch ein mit Bedeutungen belastetes Material Verwendung finden. Das Ganze aber ruht in sich, ist einfach da: eine Gegebenheit. Das Klavierstück 8 (Fantasia) überlagert eine Kreisform einer Strophenform, beides also Formen, die keine narrative Dramatik besitzen. Die Zeitstruktur ist streng, doch gibt es immer wieder Zonen, wo der Interpret im weitesten Sinne auch improvisatorisch tätig wird. Seine Person, sein Körper wird spürbar, und auf dieser Ebene werden sehr wohl dramatische Augenblicke zu erleben sein.
A.Z.

In Bewegung (La Montagne Sainte-Victoire) (1998)

für Tuba und zwölf Solostreicher

Paul Cézanne hat immer wieder, fast obsessiv, denselben Berg gemalt: La Montagne Sainte-Victoire. Beim Betrachten der Bilder verstärkt sich der Eindruck, dass es dabei zwar auch um das Zusammenspiel von Farbe, Fläche, Geometrie, Komposition etc. gegangen ist, um Formales also. Die Hauptsache aber scheint mir zu sein, dass der Berg einfach als Gegebenheiten in einem Lebensraum wirkt, ein Bild für das Sein. Und im Berg drin findet sich ein anderer Ort, wo Zeit sich anders bewegt, als in der Gegenwart. Als Komponist bemühe ich mich darum, musikalische Gegebenheiten zu realisieren und in ihnen dieses Andere zu suchen.
A.Z.

Weisse Bewegung (1996-98)

für Violoncello, Klavier und Schlagzeug

Am Anfang stand der Wunsch, ein umfangreiches Stück für Violoncello und Klavier zu schreiben, doch bald lagerten sich weitere Ideen an: Ein Zuspielband mit Klängen der verwendeten Instrumente, elektronischen und konkreten Geräuschen sollte hinzutreten, ein Gedanke, welcher wieder verlassen wurde, denn anstelle des Tonbandes erscheint nun als dritte, selbständige Stimme im musikalischen Geschehen die eines «Geräuschemachers»: Das Duo wurde zum Trio erweitert, in welchem eine Schlagzeugerin oder ein Schlagzeuger die Funktion des Zuspielbandes übernimmt, aber auch als gleichberechtigte/r Triopartner/in agiert.

Weisse Bewegung umfasst fünf grössere Sätze: Weisse Bewegung I, Weisse Bewegung II, Stillstand I, Weisse Bewegung III, Stillstand II. Im einstigen Handlungsballett bezeichneten die Begriffe «weisser Akt» oder «weisse Szene» Momente abstrakter Bewegung ausserhalb des Erzählfadens. Der Vergleich gibt dem Werk den Titel: Weisse Bewegung. Im Spannungsfeld von Bewegung und Stillstand entsteht eine Musik, welche sehr heterogen ist. Man könnte sie mit dem Bild einer Landschaft mit Biobauernhof, Atomkraftwerk, Wegkreuz, Trampelpfad, Autobahn und Schuhfabrik vergleichen. Jedes einzelne Ding hat eine Geschichte und erzählt eine Geschichte. Die Dinge widersprechen sich teilweise, stossen sich ab, und doch gehören sie zusammen in dieses eine Landschaftsbild. So ist auch Weisse Bewegung heterogen, widersprüchlich, aber ein Ganzes, das so und nicht anders zusammengehört. Lokal können sehr wohl Geschichten erzählt werden, kann teilweise gar inhaltlich extrem belastetes Material Verwendung finden, das Ganze aber ruht in sich, ist einfach da, ohne Narration.
A.Z.

Abendland (Klavierstück 6) (1996)

für Klavier und Zuspiel-CD

Der Glockenklang ist ein markantes Zeichen im Klang-Biotop des Abendlandes. In jeder Region wieder anders erinnert er daran, dass im Dorf, in der Stadt eine Kirche steht. Der Stundenschlag einer Turmuhr-Glocke misst die irdische Zeit. Gustav Mahler wiederum hat den Herdenglocken in seiner sechsten und siebten Sinfonie ein unvergleichliches musikalisches Denkmal gesetzt. Er lässt sie als fernen, letzten Klang der menschlichen Zivilisation erklingen, der für einen Hör-Blick in eine andere Welt steht.

Mit leichter Melancholie erinnert das Klavierstück «Abendland« an dieses Klangzeichen. Ein einfacher, tiefer Gesang erklingt, darin ereignen sich einzelne «Glocken»-Akzente (welche auf sehr abendländische Weise auf dem sehr abendländischen Instrument disponiert sind: in einer aus der Tiefe aufsteigenden Allintervallreihe). Später tritt zum Klavier gleichsam als akustisches Bühnenbild von einer Compact Disc zugespielt der Klang-Lebensraum des Abendlandes. Zu hören ist der Umweltklang eines kalten, regnerischen Dezembermorgens. In einer Zeitraffer-Montage werden die zwei Stunden zwischen fünf Uhr und sieben Uhr in wenigen Minuten durchschritten; Zürich, die grösste Schweizer Stadt, erwacht. Elektronische Klänge bieten Kommunikationsmöglichkeiten zwischen dem Zuspiel und dem Live-Klavier an, das sich in einer offenen, auf (Lebens-)Zyklen beruhenden Form bewegt.

Der Klang des Biotops (aufgenommen am 22. Dezember 1994) ist unterdessen historisch geworden; heute würde er sich – würde man zur selben Jahreszeit und Stunde an derselben Stelle von Zürich ein Mikrophon platzieren – recht anders zeigen. Die Aufnahme wurde am frühen Morgen auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung von Claude Debussys «Prélude à l’après-midi d’un faune» realisiert, einem Werk, das abendländische Musikgeschichte geschrieben hat.
A.Z.

L’espace tout à coup m’irrite (1987)

Musik für Schlagzeug und Streichtrio

«L’espace tout à coup m‘ irrite. L’interrogation logée au fond de nous a-t-elle vraiment besoin de cet organisateur des supplices et des fêtes? … La vague et le grain de sable voudraient-ils donc venir à bout de tout par la répétition? En attendant de me mêler à cette chose sans nom, je l’appelle encore l’Espace. Le mot rafraîchit ma pensée, – et je marche.» Anfang und Schluss eines kurzen Prosatextes von Jean Tardieu aus seiner Sammlung «Formes et Figures», irritierend, rätselhaft. Könnte man ein neues Stück ein musikalisches Terrain, einen Raum nennen? Einen Raum, in dem der Komponist noch nicht war, den er befragt, für dessen Erforschung er ein Metier entwickelt und den er schliesslich einem Ensemble zur interpretierenden Erkundung weitergibt, den Zuhörenden ein Gelände zur Verfügung stellt, in welchem sie sich hörend, entdeckend wie in einer Installation bewegen können?
Fünf Materialien, mit welchen Klänge erzeugt werden: Holz, Metall, Textil, Fell, Stein. Das Schlagzeug fungiert als Zeitgeber, seine Interpunktionen stecken den Raum ab, in welchem das Streichtrio nun seinerseits Tonräume auslotet. Und plötzlich eine Irritation.
A.Z.